Die Tochter der Hexe
dann ein dicker Verband, und Ihr könnt nach Hause.»
Marthe-Marie half dem armen Mann, sich aufzurichten. Ambrosius hatte ihm den Schädel bis zur Nasenspitze bandagiert, sodass der Mann jetzt ohnehin nichts mehr sehen konnte. Zwei kräftige junge Männer, vielleicht seine Söhne, kamen ihr entgegen und nahmen den Patienten rechts und links beim Unterarm.
«Gut so, bringt ihn rasch nach Hause.» Ambrosius holte tief Luft. «Er soll sich hinlegen und den Verband bis morgen dranlassen. Der Nächste, bitte!»
Zwei Tage später erwachte Marthe-Marie von dem Lärm splitternden Holzes und berstenden Glases. Dazwischen ertönten gellende Schreie. Hastig schlüpfte sie in ihren Wollkittel.
«Das kommt vom anderen Ende des Lagers.» Fast gleichzeitig mit ihr sprang Diego vom Wagen. Barfuß und mit offenem Haar folgte sie ihm in die eiskalte Morgendämmerung. Im Lager herrschte völliges Durcheinander, alle eilten aus ihren Wagen, sie hörte Lisbeth und Agnes weinen, wieder krachte Holz. Es kam aus der Ecke, wo der Wundarzt Karren und Zelt aufgebaut hatte.
Dort bot sich ihnen ein entsetzlicher Anblick. Wie die Berserker schlugen vier Männer mit Knüppeln abwechselnd auf Ambrosius ein, der am Boden lag, und gegen dessen umgestürzten Karren. Lambert, der als Erster an Ort und Stelle war, wurde sofort von einem Hieb getroffen. Bevor Diego und die anderen Gaukler eingreifen konnten, schleuderten ihnen die Männer die Knüppel vor die Brust und ergriffen die Flucht.
«Sagt Eurem Hodenschneider, dass er unseren Vater blind gemacht hat, » hörten sie sie brüllen, dann waren die vier in der Dämmerung verschwunden.
Lambert hatte bis auf eine Platzwunde an der Stirn keinen größeren Schaden genommen, doch Ambrosius rührte sich nicht. Blutüberströmt lag er inmitten seiner Habseligkeiten, sein Atem gingkurz und stoßweise. Der Prinzipal riss sich das Hemd in Fetzen und versuchte damit, die klaffenden Wunden zu bedecken. Fieberhaft durchwühlte Marthe-Marie den umgestürzten Karren nach Verbandszeug, bis sie, wie aus weiter Ferne, Maruschs Stimme hörte:
«Lass. Es ist vorbei.»
Sie richtete sich auf und starrte auf den leblosen Körper zu ihren Füßen. Ambrosius’ Augen waren weit aufgerissen, als sei er immer noch bass erstaunt, was da mit ihm geschah. Doch sein Blick war gebrochen.
Diego kniete nieder und nahm seine Hand. «So ein Ende hast du nicht verdient, alter Quacksalber», hörte Marthe-Marie ihn flüstern. «Erschlagen wie ein Stück Vieh.»
Dann schloss er dem Toten die Augen.
Keiner sprach ein Wort, als sie sich rings um den Leichnam aufstellten, selbst die Natur hielt den Atem an: Kein Windhauch, keine Vogelstimme, kein Pferdeschnauben war zu hören. Schließlich durchbrach der Prinzipal die Stille mit einem Gebet, in das die anderen leise einfielen: «Herr, gib ihm ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm. Lass ihn ruhen in Frieden. Amen.»
Dann wandte er sich ab. «Caspar und Quirin, ihr bringt ihn auf meinen Wagen. Und ihr anderen: Packt eure Sachen, wir verschwinden.»
35
Marthe-Marie wusste genau, warum niemand aus der Truppe auf den Gedanken kam, Ambrosius’ Mörder vor Gericht zu bringen, hatte sie doch längst am eigenen Leib erfahren, was Rechtlosigkeit bedeutete. Unterwegs bestatteten sie den toten Wundarzt an einem einsamen Flecken an der Riss. Den Karren mit all seinen medizinischenund chirurgischen Kostbarkeiten versenkten sie in der Strömung des Flusses; nur die Reiseapotheke nahm der Prinzipal an sich. Als sie das bunt bemalte Heck des Karrens unter Schmatzen und Gurgeln untergehen sah, wusste Marthe-Marie, dass sie nicht länger bei den Spielleuten bleiben konnte.
Eine halbe Wegstunde später trafen sie auf einen jungen Mann, der sein Pferd tränkte. Marthe-Marie hatte die Briefbüchsen und das kleine silberne Schild am Sattel, das den Reiter als reichsstädtischen Amtsboten auswies, sofort ausgemacht.
Sie sprang vom Kutschbock und begrüßte den Fremden höflich. Er war recht klein, aber drahtig, und sein Vollbart wie seine Kleidung nach Art der Landsknechte verliehen ihm etwas Verwegenes.
«Wohin seid Ihr unterwegs?»
Er musterte sie einen Augenblick, bevor er antwortete. Seine haselnussbraunen Augen strahlten etwas Sanftes, fast Kindliches aus, das so gar nicht zu seinem soldatischen Äußeren passte und sie fast schmerzhaft an Jonas erinnerte.
«Gewöhnlich reite ich von Ulm über Biberach nach Ravensburg und wieder zurück. Immer hin und her. Doch dieses Mal muss ich
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