Die Tochter der Hexe
bis an den See, nach Meersburg.»
«Nach Meersburg.» Sie sprach den Namen langsam aus, spürte darin den fast vergessen geglaubten Erinnerungen an ihre Kindheit nach. Wie hatte sie das Städtchen mit seiner stolzen uralten Burg als Kind immer bewundert, wenn ihr Vater sie bei gutem Wetter auf den See hinausgerudert hatte.
«Warum fragt Ihr, schöne Jungfer? Wollt Ihr mir eine Nachricht mitgeben? Für einen halben Gulden bin ich dabei.»
«Der Brief sollte nach Konstanz, nicht nach Meersburg. Wie schade. Außerdem müsstet Ihr meinen Bruder persönlich aufsuchen, damit er Euch seine Antwort gleich mitgibt.» Sie wollte sich schon abwenden, doch der Bote hielt sie zurück.
«Das lässt sich machen. Euch zuliebe und sagen wir: für einen Gulden lasse ich mich in Meersburg nach Konstanz übersetzen. Wohin soll ich Euch die Antwort bringen? Nach Biberach?»
Sie schüttelte den Kopf. «Habt Dank für das Angebot. Aber ich besitze nicht einmal diesen einen Gulden.»
«Doch!»
Marthe-Marie drehte sich um. Wenige Schritte hinter ihr stand Marusch. Wahrscheinlich hatte sie das ganze Gespräch mit angehört.
«Kommt mit zu meinem Wagen, junger Mann, damit ich Euch ausbezahle. Und du schreib schnell deinen Brief.»
Marthe-Marie rannte zu Diego, der als Einziger in der Truppe Papier, Federkiel und ein Fässchen mit kostbarer Gallapfeltinte besaß. Er runzelte über ihre Bitte verwundert die Stirn, fragte jedoch nicht weiter nach. Abseits der Wagen hockte sie sich auf einen eiskalten Stein und schrieb hastige Worte an ihren Bruder, Worte, die so wenig von dem ausdrückten, was mit ihr geschehen war. Ihr blieb nur die Hoffnung, dass er ihre und Agnes’ Notlage verstehen würde, dass noch ein Rest von Verbundenheit aus Kindheitstagen geblieben war.
Als sie das Papier zusammenrollte, saß der Amtsbote bereits im Sattel.
«Wohin also soll ich die Antwort bringen?»
«Wir werden wohl die nächste Zeit in Waldsee gastieren. Gehört das zu Euren Stationen?»
«Eigentlich bediene ich nur die freien Reichsstädte, keine Landstädtchen. Aber Waldsee liegt direkt auf meinem Weg, da kann ich wohl am dortigen Rathaus vorbei.»
«Das wäre schön. Wann, denkt Ihr, seid Ihr zurück?»
«In fünf bis sechs Tagen könnt Ihr Eure Nachricht in Waldsee abholen. Vorausgesetzt, das Wetter bleibt trocken und ich bekomme eine Antwort von Eurem Bruder.»
«Das kann ich nur hoffen», sagte sie mit belegter Stimme. «Gehabt Euch wohl und gute Reise.»
«Danke, Euch auch.»
Dann gab er seinem Pferd die Sporen und galoppierte davon. Sie sah ihm mit bangem Herzen nach, voller Zweifel, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war.
«Nun komm schon, wir wollen weiter», rief Marusch.
Marthe-Marie kletterte neben sie auf den Bock. «Wie hast du den Boten bezahlt? Keiner von uns besitzt mehr einen Pfennig. Hast du etwa Sonntag um Geld gebeten?»
«Keine Sorge. Leo wird von nichts erfahren.» Sie lachte.
«Wovon wird er nichts erfahren?»
«Larifari. Vergiss, was ich gesagt habe. Deine Nachricht ist unterwegs, und das ist die Hauptsache.»
«Marusch, du sagst mir jetzt sofort, womit du den Boten bezahlt hast.»
«Was bist du nur für ein Wunderfitz.» Marusch stöhnte. «Nun denn, mit einer Silberbrosche. Die kleine hässliche, die mir sowieso nie gefallen hat.»
«Du bist vollkommen verrückt! Wie konntest du so etwas tun? Deinen Schmuck hergeben für einen Brief, auf den ich vielleicht nie eine Antwort bekomme.»
«Jetzt hör mir mal zu: Ich habe nicht vergessen, wie du damals nach dem Überfall all deine guten Kleider an diese Bauernschlampe verscherbelt hast. Das war unsere Rettung. Da werde ich wohl eine lächerliche kleine Brosche hergeben können, die dir möglicherweise hilft, aus diesem Elend herauszukommen.»
Am nächsten Tag erreichten sie Waldsee. Der Prinzipal ließ den Tross in einer Senke nahe des malerischen kleinen Sees halten, dann machten er und Diego sich bereit für den Gang zum Magistrat. Es versetzte Marthe-Marie einen Stich, als sie sie eine halbe Stunde später davongehen sah. Wie üblich hatten sich diebeiden gewaschen und gekämmt, doch inzwischen sahen sie nicht viel besser aus als Bettler. Dennoch war Sonntag guten Mutes gewesen, hatte er doch gehört, dass dieses Landstädtchen durch und durch katholisch war, zudem hatten Augustinerchorherren hier ein reiches Stift, und so gedachte er, sich mit einem Krippenspiel und einigen ergreifenden Historien aus dem Alten Testament zu bewerben.
Am späten Nachmittag
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