Die Tochter der Hexe
und dabei immer die Angst vor der Verurteilung im Nacken. Außerdem weiß Tilman genau: Ohne dich wären sie niemals freigekommen.»
Sie musste daran denken, was Diego ihr gesagt hatte: Diesem Pechmutz bräuchten sie nicht allzu viele Tränen nachzuweinen, weil er ohnehin früher oder später am Galgen gelandet wäre. Sie räusperte sich: «Und wie geht es den Mädchen?»
«Besser. Die Kräutersalbe von Ambrosius scheint zu wirken. Ich glaube, sie sind erleichtert, dass alles vorüber ist. Und dass sie so glimpflich davongekommen sind. Klette kümmert sich übrigens rührend um Tilman, es scheint wirklich mehr als Freundschaft zu sein.»
Tatsächlich waren die Richter Klette und Wespe gegenüber vergleichsweise gnädig gestimmt gewesen. Man hatte sie mit einem Lasterstein durch die Gassen getrieben, vor dem Rathaus mit sieben Rutenschlägen ausgestrichen und anschließend der Stadt verwiesen. Niklas hatte beim Prinzipal bewirken können, dass die Mädchen, vorerst zumindest, bei ihnen bleiben durften. Dabei war endlich herausgekommen, warum er und Tilman sich dieser Bande angeschlossen hatten: Tilman war bis über beide Ohren in Klette verliebt. Verdenken konnte man ihm diese erste Liebe kaum, so hübsch und aufgeweckt war das Mädchen mit seinen feuerroten Locken und den lustigen Grübchen in den Wangen.
Die Jungen aus Pechmutzens Bande waren weit härter bestraft worden. Auch sie hatte man zwar begnadigt, doch erhielten sie zwölf so heftige Rutenschläge, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Dann wurden sie, an Händen und Hals aneinander gefesselt, zum Richtplatz geschleift. Dort sollten sie, zur Abschreckung vor weiteren Diebestaten, erst der Hinrichtung ihres Anführers zusehen, dann auf der Stirn gebrandmarkt und ebenfalls der Stadt verwiesen werden.
Marthe-Marie dachte über die Dummheit der Obrigkeit nach: Als Gebrandmarkte würden sie niemals mehr ehrliche Arbeit finden, und so lief auch ihr Schicksal unausweichlich auf Raub und Diebstahl und damit auf den Galgen zu.
Am Abend erreichten sie Laupheim, ein schmuckes, wohlhabendes Dorf mit Pfarrkirche und Veste. Die Sonnwendfeier stand unmittelbar bevor, und so machten sie hier für zwei Tage Station, um auf dem Dorfanger mit Possen, Akrobatik und Musik einpaar Schillinge zu verdienen. Marthe-Marie fiel auf, dass sie weniger Beifall ernteten als gewohnt. Dass der einstige Glanz von Leonhard Sonntags Compagnie zunehmend verblasste, wurde immer deutlicher spürbar – Wagen und Bühnenaufbauten waren mittlerweile schäbig und angeschlagen, die Requisiten abgegriffen, ihre Kostüme mehrfach geflickt. Um die Zuschauer richtig zu begeistern, sie in die schillernde Welt von Traum und Zauber zu entführen, hätte es anderer Mittel bedurft. Doch die Kasse war leer.
Dafür erwachte Tilman endlich aus seiner Erstarrung. Als auf dem Höhepunkt des Festes unter Peitschengeknall das Johannisfeuer entzündet wurde, nahm Klette seine Hand und sprang als Zeichen ihrer Verbundenheit mit ihm über das Feuer. Die übrigen Burschen und jungen Mädchen taten es ihnen nach, um anschließend den Tanz zu eröffnen. Ohne den Blick voneinander zu lassen, tanzten Tilman und Klette miteinander, bis sie sich verschwitzt und glücklich ins Gras fallen ließen. Marthe-Marie fragte sich, ob Tilman seinem neuen Schatz die Wahrheit über die vermeintlichen Zauberinnen im Turm erzählt hatte. Obwohl sie dem Mädchen vertraute, war ihr unwohl bei diesem Gedanken.
«Wie die Turteltauben», hörte sie den Prinzipal zu Marusch sagen. «Er ist noch viel zu jung für so etwas.»
«Sag bloß, du hast die Liebe erst mit mir entdeckt!»
Ein Anflug von Zärtlichkeit erschien auf seinem bärbeißigen Gesicht. «Das solltest du eigentlich wissen.»
Bevor sie weiterzogen, wurde über Klette und Wespe beraten. Quirin war vehement dagegen, die Mädchen aufzunehmen.
«Zwei unnütze Esser mehr», schimpfte er. »Wir werden selbst kaum satt. Zumindest seit sich Antonia als Köchin versucht.»
Antonia streckte ihm respektlos die Zunge heraus, und Lisbeth und Agnes kicherten.
Von Niklas’ Mutter erhielt Quirin unerwartet Unterstützung.«Ich weiß nicht. Die beiden mögen ja einen guten Kern haben, aber sie sind im Findelhaus aufgewachsen und leben seit Jahren auf der Straße. Was, wenn sie wieder auf Diebestour gehen und unsere Kinder mit hineinziehen?»
Klette meldete sich zu Wort. «Darf ich etwas vorschlagen?»
Sonntag nickte.
«Lasst uns eine Weile mitziehen, damit wir
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