Die Tochter der Hexe
Zeit wieder alles liegen und stehen. Diego durfte sie nicht einmal mehr berühren, ihrer Freundin ging sie aus dem Weg. Nur Agnes gegenüber zeigte sie eine fast verzweifelte Zärtlichkeit, dass die Kleine, die sonst eine erstaunliche Selbständigkeit an den Tag legte, ganz unsicher wurde und ihrerseits die Mutter nicht mehr außer Sichtweite ließ. Dabei hatte Marthe-Maries Verstimmung eine einzige Ursache: Mit jeder Stunde fürchtete sie sich mehr vor dem Augenblick, wo sie im Rathaus stehen und nach einer Nachricht fragen würde. Wobei sie nicht wusste, was sie mehr ängstigte: Dass ihr Gang vergebens sein könnte oder sie eine Antwort in den Händen halten würde.
Am fünften Tag, die trockene Kälte hatte umgeschlagen in einen alles durchdringenden Nieselregen, machte sich Marthe-Marie auf den Weg in die Stadt. Agnes bettelte, mitkommen zu dürfen, fastwar sie darüber erleichtert. Sie hüllte ihre Tochter in ein dickes wollenes Tuch, sich selbst in einen zerschlissenen und mehrfach geflickten Kapuzenumhang, den sie sich mit Marusch und Anna teilte. Dann marschierten sie das kurze Stück zum Biberacher Torturm.
Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie noch kein einziges Mal in dieser Stadt gewesen war, die so malerisch an einer uralten Römerstraße zwischen den beiden kleinen Seen lag. Dabei hatte sie in den wenigen Tagen mehr über Waldsee erfahren als über die meisten anderen Orte, an denen sie bisher Station gemacht hatten. Vielleicht lag es daran, dass die Waldseer zwar ein bescheidenes Leben führen mochten, als einfache Krämer, Bauern und Fischer, Leineweber oder Kornhändler, dabei aber stolz und rebellisch waren und sich mit der Jahrhunderte alten Pfandherrschaft der Waldburger nie abgefunden hatten. Die meisten, die zu ihren Vorführungen herauskamen, waren offen und zu Gesprächen bereit, fast schienen sie in den Gauklern so etwas wie Kampfgefährten gegenüber ihren geistlichen und weltlichen Herren zu sehen.
Mehr als einmal hatten sich diese Bürger gegen ihren Pfandherrn erhoben, wie sie stolz erzählten, hatten kurzerhand das kleine Tor zum Schloss, das direkt vor den Mauern ihrer Stadt lag, zugemauert oder waren mit Pfeil und Bogen in den Schlosshof eingedrungen, hatten den Truchsess und seine Gefolgsleute angegriffen und mit Fackeln etliche Gebäude in Brand gesetzt. Selbst gegen Georg von Waldburg hatten sie gewagt, sich zu wehren, jenen berüchtigten Bauernjörg, der vor nun bald hundert Jahren den aufständischen Bauern versprochen hatte, ihre Forderungen zu erfüllen, sofern sie ihre Waffen niederlegten, nur um sie dann hinterrücks niederzumetzeln. Dass die Rebellion der Waldseer Bürger jedes Mal in einer blutigen Niederlage endete, ließ ihre Hoffnung nicht schwinden, eines Tages doch wieder dem Hause Österreich anzugehören oder gar zur freien Reichsstadt zu werden.
Als Marthe-Marie jetzt den Torwärter grüßte, erkannte sie in ihm einen der Schaulustigen, die häufiger zu ihnen herauskamen. Auch er schien sie zu erkennen, denn er gab ihren Gruß freundlich zurück und winkte sie und Agnes durchs Tor, ohne Pflastergeld zu verlangen.
Linker Hand erhob sich die mächtige Stiftskirche St. Peter, die mit den angrenzenden Stiftsgebäuden unverhohlen ihren Reichtum zeigte. Seit je war das Verhältnis der armen Stadt zum reichen Kloster mit seinen großen Ländereien gespannt gewesen. War das Joch der weltlichen Herrschaft schwer genug zu ertragen, so wollten sich die Bürger wenigstens aus der geistlichen Vormundschaft der Augustinerchorherren befreien und eine eigenständige Kirchengemeinde schaffen. Aus eigenen Mitteln und unter vielen Opfern errichteten sie schließlich eine Kapelle auf dem Frauenberg oberhalb der Stadt. Aber noch ehe die Kirche fertig war, erklärten Propst und Truchsess die Kapelle zur Filiale der Stiftskirche, andernfalls müsse der Bau eingestellt werden. Nun war aber die Kapelle, obwohl noch nicht fertig, schon zum bevorzugten Gebetsort der Bürger geworden. Unter demütigenden Bedingungen bauten sie ihr Kirchlein fertig. Ein Taufbecken zu errichten wurde ihnen untersagt, der Priester musste dem Propst untergeben sein und durfte ohne dessen Zustimmung keine Sakramente spenden. Auch das Kirchenopfer wurde vom Stift beansprucht. Trotz dieser drückenden Einschränkungen wurde die Frauenbergkapelle für die Menschen von Waldsee zur bevorzugten Kirche, und dass Gebete nirgendwo besser erhört wurden als in dieser Kapelle, hatten die Gaukler in diesen Tagen schon oft
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