Die Tochter der Hexe
Auskommen für zehn Schillinge pro Auftritt in den Zunftstuben und Patrizierhäusern zu suchen. Die beiden einzigen Auflagen: Sie mussten, mit Ausnahme der Musiker, beim ersten Ruf des Nachtwächters die Stadt verlassen und ihre Wagen und Karren, selbst die Bühne, außerhalb abstellen. Dazu wurde ihnen ein Lagerplatz bei der Abdeckerei zugewiesen, weit draußen vor dem Ulmer Tor.
Es war ein baumbestandenes Stück Brachland, an dessen Rand ein schmaler Bach floss – an sich kein übler Platz, wäre nicht einen Steinwurf weiter der Arbeitsplatz der Schinder gelegen. Von morgens bis abends verrichteten hier die Knechte der Scharfrichter ihre ekelerregende Arbeit, häuteten und zerlegten Kadaver, umdaraus Viehfutter, Leim und Knochenmehl, Fette und Seifen zu gewinnen. Der bestialische Gestank drang bis in ihr Lager, und außerdem lockte das verwesende Vieh, das überall herumlag, Krähen und Ratten an.
Marusch verbot den Kindern bei strenger Strafe, sich der Abdeckerei zu nähern, weniger aus Abscheu gegenüber den Schindern, diesen Unehrlichsten der Unehrlichen, als aus Angst vor bösen Krankheiten. Ambrosius hatte ihnen empfohlen, im Freien ein Tuch vor den Mund zu binden, als Schutz gegen die Ausdünstungen, und Salome verteilte Amulette mit Marder- und Wolfszähnen.
Mehr noch als die anderen litt Marthe-Marie an diesem unwirtlichen Ort; sie setzte kaum einen Schritt vor den Wohnwagen. Vielleicht hatte Marusch bemerkt, wie ihre Freundin immer einsilbiger wurde, jedenfalls fasste sie sich am dritten oder vierten Tag ein Herz und ging die wenigen Schritte hinüber zu den Abdeckern, um sich einen anderen Lagerplatz auszubitten. Sie hatte sich eine kleine Obstwiese ausgeschaut, die jenseits des Baches hinter einem Hügel lag und damit außer Sichtweite der Abdeckerei.
Doch der Altknecht beschied ihr, er habe darüber nicht zu entscheiden, sie müsse warten, bis die Scharfrichter zurück seien. Meister Stoffel allerdings sei für längere Zeit bei den Hexenprozessen in Bludenz tätig, und auch der Jungmeister komme erst in drei Tagen zurück. So lange habe sie sich schon zu gedulden.
Trotzdem drängte Marusch den Prinzipal, das Lager abzubrechen. Doch in der kommenden Nacht setzte der erste Frost ein und ließ den durchweichten Boden beinhart gefrieren. Der Gestank wurde prompt erträglicher.
«Wir bleiben», beschied Sonntag ihr. «Zumindest solange das Wetter trocken und kalt bleibt. Vielleicht ist ja auch bald dieser Jungmeister zurück. Wir sind wirklich auf jeden Tag angewiesen,an dem wir auftreten können. Oder willst du die Wintervorräte mit Pferdeäpfeln bezahlen?»
Dann aber geschah etwas Furchtbares. Ambrosius, der wie immer in der schlechten Jahreszeit alle Hände voll zu tun hatte und damit der Einzige war, der über mangelnde Einnahmen nicht klagen konnte, hatte unlängst einen älteren Mann behandelt, dessen Katarrh hartnäckig in der Stirnhöhle festsaß. Nachdem salziger Dampf nichts bewirkte, hatte er den Mann davon überzeugt, dass es das Beste sei, den Katarrh zu zapfen. Bevor er zum Messer griff, hatte er sich den Eingriff selbstverständlich angemessen bezahlen lassen, dem Mann dann eine großzügige Menge Wacholderbrand eingeflößt und ihn auf die Behandlungsbank gefesselt.
Er musste zweimal zum Schneiden ansetzen, bevor die zähe Masse aus Blut, Schleim und Eiter hervorquoll. Mochte es ein Augenblick der Unachtsamkeit gewesen sein, der ihn zu tief stechen ließ, mochte es daran gelegen haben, dass er selbst zu viel Hochprozentiges getrunken hatte – was er neuerdings vor chirurgischen Eingriffen immer tat –, jedenfalls hörte der Patient nicht auf zu brüllen. Er zerrte an seinen Fesseln, dass die Bank wackelte, und schrie, bis schließlich einzelne Worte zu verstehen waren: Ihm sei gänzlich schwarz vor Augen!
Marthe-Marie, die das Geschrei herbeigelockt hatte, sah, wie Ambrosius am ganzen Körper zu zittern begann.
«Bitte, beruhigt Euch doch. Das ist nur der Schmerz, der Euch vorübergehend das Augenlicht nimmt. Schließt rasch die Augen. Hier noch ein wenig Branntwein, das wird die Beschwerden lindern.»
Er schüttete die Hälfte des Branntweins daneben, dann griff er nach einem Fläschchen mit der Aufschrift Schierlingskraut und drückte es Marthe-Marie in die Hand.
«Zehn Tropfen davon direkt auf die Zunge. Bitte!»
Endlich war vom Patienten nur noch ein Wimmern zu hören. Auch Ambrosius schien sich zu beruhigen.
«So, jetzt noch ein bisschen Geierschmalz auf die Wunde,
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