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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Wohnwagen auf Maruschs Strohsack, das Kohlebecken zu ihren Füßen verbreitete eine angenehme Wärme.
    «Es tut mir von Herzen Leid wegen deines Ziehvaters. Du hast ihn sehr gemocht, nicht wahr?» Liebevoll streichelte Marusch ihre Wange. «Und was deinen Bruder betrifft – vergiss ihn am besten. Er ist nichts anderes als einer dieser erbärmlichen Emporkömmlinge, die über Erfolg und Reichtum ihre Menschlichkeit abgelegt haben wie einen alten Rock. Nicht du hast versagt, sondern er.»
    Marthe-Marie verstand kaum den Sinn ihrer Worte. Sie fragte sich, ob Marusch dem Getränk noch etwas anderes beigemischt hatte; alles um sie herum löste sich auf in einem Reigen schemenhafter Eindrücke. Dann fiel sie in einen Schlaf voll unerklärlicher Bilder und Stimmen, mit Träumen, die in sanften Farben gemalt waren.
    Ab und an nahm sie warme Hände wahr, die ihr Gesicht berührten, sie sah Agnes mit ihren widerspenstigen Locken und tiefblauen Augen an ihrem Lager, Diegos besorgtes Gesicht, spürte, wie ihr jemand zu trinken einflößte.
    «Ich denke, sie ist überm Berg.»
    Marthe-Marie schlug die Augen auf. Marusch und Anna beugten sich mit prüfendem Blick über sie. Ihre Stirn war jetzt angenehm kühl.
    «Du hattest einen starken Anfall von Nervenfieber», hörte sie Marusch flüstern.
    «Hat das Ambrosius gesagt?»
    «Ambrosius ist tot.»
    Nur widerstrebend kehrte Marthe-Marie in die Wirklichkeit zurück. Ferdinands Brief trat ihr ins Bewusstsein, jedes einzelne Wort hatte sie wie in Stein gemeißelt vor Augen. Wäre sie doch nur in diesem dunklen Reich der Träume geblieben.
    «Du hast fast drei Tage lang geschlafen. Agnes wird froh sein, dass du wieder bei uns bist. Sie hat nur noch geweint.»
    «Bitte, hol sie her.»
    «Gleich.» Marusch gab Anna einen Wink, die daraufhin den Wohnwagen verließ. «Vorher möchte ich dir noch etwas sagen. Bist du wieder ganz bei dir?»
    Marthe-Marie nickte. Ihr Magen begann laut zu knurren.
    Marusch lächelte. «Das ist gut. Anna wird dir etwas zu essen bringen, dann hole ich Agnes. Hör zu.» Sie nahm ihre Hand. «Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aus Eigennutz vielleicht. Aber ich habe in Ulm herausgefunden, dass Jonas dort als Hauslehrer arbeitet.»
    Marthe-Marie fuhr auf. Ihre Schläfrigkeit war wie weggefegt.
    «Hast du mit ihm gesprochen?»
    «Nein. Ich wollte mich nicht zu sehr einmischen. Aber ich weiß nun, dass er tatsächlich nach Ulm gegangen ist und eine Stellung bei einer reichen Patrizierfamilie gefunden hat. Sobald du wieder auf den Beinen bist, solltest du mit Agnes zu ihm gehen. Einer unserer Männer wird dich begleiten.»
    «Nein!» Die Antwort entfuhr ihr als spitzer Schrei.
    «Beruhige dich, du musst ja nichts übereilen. Aber denk doch mal darüber nach. Du bist einfach nicht gemacht für dieses erbärmliche Leben bei uns Fahrenden.»
    «Niemals.» Sie saß jetzt aufrecht auf ihrem Strohsack und warf ihrer Freundin einen zornigen Blick zu. «Schau mich doch an. Ich bin doch kein Bürgerweib mehr. Wie eine verhärmte alte Frausehe ich aus, verwahrlost und in Lumpen wie eine Bettlerin. Einen letzten Rest Stolz habe ich noch, dass ich nicht bei einem Mann angekrochen komme und um Obdach bettle.»
    «Ein falscher Stolz», murmelte Marusch.
    «Und dann – was habe ich nicht alles getan, um Jonas zurückzustoßen. Nein, Marusch, es ist zu spät mit Jonas. Wenn du unsere Freundschaft nicht gefährden willst, dann fang nie wieder damit an.»
    Marusch verzog ihren Mund zu einem schmalen Stich. «Gut, niemand kann dich zwingen. Doch hin und wieder solltest du auch an Agnes denken. Sie hat ihr Leben noch vor sich.»
     
    Das Weihnachtsspiel vor dem Rathaus war ihre Rettung. Nach der Missernte in diesem Herbst hatte tatsächlich eine Teuerung eingesetzt, die vor allem die Handwerker und Bauern bis ins Mark traf. Das fruchtbare Hinterland, das selbst in nur halbwegs guten Jahren so viel Getreide lieferte, dass es bis in die Schweiz ausgeführt wurde, hatte kaum Ertrag gebracht, und der Speicher des Waldseer Kornhauses war fast leer. Als der Magistrat die Rationierung der Vorräte beschloss, stieg der Brotpreis binnen weniger Tage um das Dreifache. Getreide ersetzte Heller und Pfennig als Zahlungsmittel, um jede Ware wurde erbarmungslos gefeilscht, und bald gab es viele Lebensmittel nur noch unter der Hand. Einige wenige Händler und Kaufleute, die aus der Not ihr Schnäppchen zu schlagen wussten, wurden immer reicher, während die Übrigen sich auf das

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