Die Tochter der Hexe
Voller Sorge schwärmten die Kinder aus, sie zu suchen, hofften darauf, sie in der Stadt oder den umliegenden Höfen zu finden, wo sie vielleicht nach etwas Essbarem gestöbert hatten. Doch es war vergebens.
Marthe-Marie hatte sich mit Marusch auf den Weg zur nahen Mühle gemacht, um den letzten Rest ihres Getreides mahlen zu lassen. Mühsam kämpften sie sich durch die Schneemassen, um gleichermaßen verschwitzt wie durchnässt mit zwei Säcken Mehl zum Lager zurückzukehren. In der Mühle hatten sie erfahren, dass in der Stadt eine Hungersnot ausgebrochen sei, weil sich die Bauern der Umgebung weigerten, ihre letzten Vorräte herauszurücken.
«Ich fürchte, die Hunde sehen wir nie wieder», meinte Marusch.
«Wie meinst du das?»
«Dass jemand sie weggelockt und geschlachtet hat.»
So war es schließlich auch Marusch, die den blutigen Fetzen entdeckte, der an den Bühnenwagen genagelt war. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein kleines Stück eines blutgetränkten Lappens, erst bei genauerem Hinsehen erkannte man die schwarzen und weißen Fellhaare. Es war das Ohr des kleinen Mischlingshundes.
Hastig zerrte Marusch an dem Nagel, doch es war zu spät. Ihr jüngster Sohn stand bereits neben ihr.
«Romulus!», schrie Titus. Die Frauen und Kinder rannten herbei,starrten auf das abgeschnittene Ohr. Tilman begann lautlos zu schluchzen.
«Mein Gott!», flüsterte Marthe-Marie. «Wer tut so etwas?»
Marusch schien ebenso fassungslos. «Das hätte nicht sein müssen.»
Sie holte Sonntag, der umgehend seine Männer zusammenrief.
«Es wäre höchste Zeit aufzubrechen. Aber die Wege sind unpassierbar. Also müssen wir Tag und Nacht Wachen aufstellen, sonst verschwinden auch noch unsere Zugtiere. Am besten pflocken wir sie direkt beim Wohnwagen an. Und niemand verlässt mehr ohne Begleitung das Lager.»
Das erhoffte Tauwetter setzte auch in den nächsten Tagen nicht ein, stattdessen überbrachte ihnen der Stadtweibel mit gewichtiger Miene eine Nachricht des Magistrats: Angesichts der Notlage der Bürger seien von nun an alle öffentlichen Darbietungen verboten. Aus Gründen der Nächstenliebe dürften sie aber kostenfrei an ihrem Platz bleiben, bis das Wetter einen Aufbruch erlaube.
«Ein sauberer Beschluss», höhnte Diego. «Hat sich der weise Rat auch Gedanken gemacht, wie wir dann unsere Kinder satt bekommen?»
Das Gesicht des Weibels färbte sich rot. «Wir haben bei Gott andere Sorgen, als euch fahrendem Volk die hungrigen Mäuler zu stopfen.»
Ohne ein weiteres Wort stapfte er davon.
«Es gibt nur noch eine einzige Möglichkeit», sagte der Prinzipal und sah die Musikanten an, die wie immer etwas abseits beieinander standen. Seit über drei Jahren schon zogen sie mit Sonntags Compagnie durch die Lande, hatten sich aber stets die Freiheit zu eigenen Entscheidungen ausbedungen.
Hans, ihr Anführer, nickte.
«Versuchen wir es.»
So musizierten die fünf heimlich und ohne Lizenz in den Taver-nen oder beim Bartscherer im Mayenbad, der bis elf Uhr in der Nacht bewirten durfte. Doch es dauerte nur wenige Tage, bis sie angezeigt und im Turm bei Wasser und Brot festgesetzt wurden.
Fast könnte man sie beneiden, dachte Marthe-Marie mit einem Blick auf Agnes und Lisbeth, die aneinander gekauert auf ihrem Strohsack hockten. Sie spielten und tobten nicht mehr, begannen stattdessen immer häufiger vor Hunger zu weinen.
Als Nächstes stand Caspar nicht mehr von seinem Lager auf. Er klagte über Schwindel und Benommenheit, dann erbrach er sich und begann an so heftigem Durchfall zu leiden, dass sie ihn aus dem Wohnwagen schleppen und in einen der kleinen, zugigen Karren verlegen mussten. Als er schließlich an schier unerträglichem Kribbeln erst in den Fingern und Zehen, dann überall an den Händen und Füßen litt, wurde klar, welch grausames Schicksal über ihn gekommen war: das Antonius-Feuer. Sein Zustand wurde immer erbärmlicher, seine Pein war kaum noch mit anzusehen. Marthe-Marie hatte einmal gehört, bei dieser Krankheit entstehe ein solcher Schmerz, dass es einer wirklichen Verbrennung gleichkomme. Mit kühlen Tüchern und einer täglichen Dosis aus Ambrosius’ Theriakvorräten versuchten die Frauen, wenigstens das Ärgste zu lindern.
«Das war das Mehl, es ist verdorben», stöhnte Marusch. «Wir müssen es verbrennen.»
Damit waren ihre letzten Vorräte weg. Verzweifelt scharrten sie auf den angrenzenden Feldern mit bloßen Händen im Schnee, bis sie auf irgendwelche Pflanzenreste oder Halme
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