Die Tochter der Hexe
Allernotwendigste beschränken mussten. In der Woche vor Weihnachten schließlich interessierte sich niemand mehr für die Künste der Gaukler, zum einen, weil selbst die Menschen aus dem weiteren Umland ihre Darbietungen bereits gesehen hatten, zum anderen und vor allem aber, weil niemand mehr einen Groschen übrig hatte.
Doch dank ihres Lohnes von einem Malter Roggen, den derKornmeister nur zähneknirschend herausrückte, litten sie zumindest nach Weihnachten nicht an Hunger, auch wenn es fortan nur in Wasser gekochtes Getreidemus oder Pfannkuchen gab.
Das Wohlwollen der Bürger gegenüber den Spielleuten, die da vor ihrer Stadt lagerten, schlug rasch um in Ablehnung, ja Feindseligkeit, sahen sie doch in den Fremden nun zwei Dutzend hungrige Mäuler mehr.
«Wir sollten weiterziehen, bevor wir wieder mit faulen Eiern beworfen werden. Oder noch Schlimmeres geschieht», drängte Marusch. In der Enge des Wohnwagens kauerten sie sich alle um das Kohlebecken, während draußen der Sturm um die Bretterwände heulte.
«Leicht gesagt.» Sonntag sah sie herausfordernd an. «Willst du bei diesem Sauwetter hinaus und die Tiere anspannen? Seit zwei Tagen geht das nun schon so. Wir können froh sein, wenn keines unserer Pferde von einem Ast erschlagen wird.»
Er warf einen missgelaunten Blick in den leeren Topf. «Gibt es keinen Brei mehr? Die Portionen werden ja von Tag zu Tag mickriger.»
«Wir müssen den Vorrat einteilen. Du trägst als Einziger noch ein Fettpolster, also jammere nicht.»
«Marusch hat Recht, der Sturm bringt Schnee, das rieche ich.» Diego legte seinen Löffel zurück in die blitzblank ausgekratzte Schüssel. «Und zwar so viel, dass wir hier festsitzen werden wie die Maus in der Falle.»
So kam es. Schon wenige Stunden später setzte heftiger Schneefall ein. Fünf Tage lang schneite es ununterbrochen – fünf Tage, an denen sie den Wagen nur verließen, um im Wechsel nach den Tieren zu sehen, ihre Notdurft zu verrichten oder Schnee für den Wasserkessel hereinzuholen. Diego versuchte vergebens, im Windschatten des Wagens ein Feuer zu entfachen, und nachdem er irgendwann mit Hilfe von Quirins Zaubermitteln Erfolg hatte, fackelteer um ein Haar den Wagen ab. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den ungemahlenen Teil ihres Korns wie Vieh zu kauen, was immerhin den Vorteil hatte, dass jeder nur das Nötigste aß.
Anfangs vertrieben sie sich die Zeit mit Geschichtenerzählen. Zum Würfeln oder Kartenspielen drang zu wenig Licht durch die Ritzen, die Läden der beiden Fenster mussten geschlossen bleiben. Doch bald begannen Unmut und Streitsucht um sich zu greifen wie eine ansteckende Krankheit. Mal zankten sich die Kinder, bis Marusch die Hand ausrutschte, um sie zur Räson zu bringen, was noch schlimmeres Geschrei nach sich zog. Dann verschwand Diego für Stunden im Schneegestöber, weil er die Enge des Wagens nicht mehr aushielt, und die Männer mussten ihn bei Einbruch der Nacht suchen gehen, unter lautstarken Flüchen. Salome begann in der Ecke, in die sie sich zurückgezogen hatte, geheimnisvolle Kräfte zu beschwören: Sie stach sich mit einer Nadel in den Finger, zog damit einen blutigen Kreis auf den Bretterboden und legte kleine Gänseknochen, Federn und verknotete Zwirnsfäden hinein. Dabei murmelte sie unablässig vor sich hin.
Irgendwann erhob sich Quirin und begann zu brüllen: «Verdammt nochmal!»
Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Marthe-Marie. «Die ist schuld. Die Bastardin hat uns Unglück gebracht, seit sie dabei ist. Du gehörst nicht zu uns, scher dich zum Teufel!»
Im nächsten Moment traf ihn Diegos Faust mitten ins Gesicht. Um ein Haar wäre es zu einer Prügelei gekommen, hätte sich Marusch nicht zwischen die beiden Männer gestellt.
«Ihr solltet euch was schämen», sagte sie nur, und Marthe-Marie wunderte sich einmal mehr über die Autorität, die von Marusch ausging.
Als es endlich zu schneien aufhörte, strömten sie ins Freie wie eine Herde Schafe, die endlich aus ihrem Pferch befreit wurde. Das Lager war vollkommen eingeschneit. Wagen und Karren lagenunter den Schneemassen wie weiße Maulwurfshügel, die Bäume rundum bogen sich unter ihrer Last, und die Pferde und Maultiere hatten sich mühsam kleine Flecken der Grasnarbe freigescharrt, um an ihr spärliches Fressen zu kommen. Zum Glück fehlte keines der Tiere, aber wer hätte bei diesem Wetter auch hier herauskommen sollen, um Pferde zu stehlen.
Dafür waren am nächsten Tag Tilmans Hunde verschwunden.
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