Die Tochter der Hexe
stießen, gruben Wurzeln aus und schlugen Ratten tot, die aus ihren Löchern krochen. In der Zwischenzeit machten sich Diego und Sonntag zu langen und gefährlichen Wanderungen in die Nachbarflecken auf, um nach Arbeit oder einer Lizenz zu fragen. Doch in jedem Dorf, in jedem Städtchen war die Antwort dieselbe: Fremde lasse man in diesen Notzeiten nicht herein, und von Gauklern mit ihren Zotenund albernem Zeug habe man ohnehin die Nase voll. Völlig erschöpft und mit jedem Mal mutloser kehrten sie von ihren Erkundungsmärschen zurück.
Schließlich hatte nicht einmal mehr Marusch etwas einzuwenden, als Klette und Wespe mit den größeren Kindern zum Betteln in die Stadt zogen. Die Mädchen hatten zwei unbewachte Nebenpforten entdeckt, durch die sie unbemerkt hindurchschlüpfen konnten, denn der Torwächter hatte längst Weisung erhalten, keinen von den Spielleuten mehr einzulassen.
«Klopft zuerst im Stift und bei den Franziskanerinnen an», gab Marusch ihnen sogar als guten Rat mit. «Schließlich sind diese Leute der christlichen Nächstenliebe verpflichtet.»
Doch die gelehrten Augustinerchorherren ließen sie vor verschlossenen Türen stehen, und von den Nonnen bekamen sie nichts als ein hartes Stück Brot in die Hand gedrückt. Es waren schlichtweg zu viele unterwegs, die nur noch ihre Lumpen auf dem Leib besaßen und sich die kärglichen Almosen streitig machten. An jeder Ecke wimmelte es von Siechen und Krüppeln, die den Passanten ihre Bettelschellen entgegenreckten, jeder hatte ein noch schlimmeres Gebrechen oder gab sich als hochschwanger oder als blöde aus, nur um einen Funken Mitleid bei den wenigen Wohlhabenden zu erregen. Die Stadt und die Chorherren stellten eigens Bettelvögte ab, um den Ansturm stadtfremder Bettler und Betrüger in den Griff zu bekommen. Wer nicht ein amtliches Bettelprivileg vorweisen und dazu ohne Stottern das Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote, das Vaterunser und das Ave Maria aufsagen konnte, wurde erbarmungslos verjagt. Für Klette, Wespe, Tilman und die anderen allerdings war das Ganze nichts als ein Katz- und Mausspiel. In den verwinkelten Gassen und Durchgängen entkamen sie den Aufsehern mit Leichtigkeit, und wurden sie doch einmal durchs Stadttor hinausgetrieben, kehrten sie durch die Nebenpforten unbemerkt wieder zurück.
Irgendwann verfiel Klette auf den alten Trick mit der Seife. Mit Schaum vorm Mund, die Augen grausam verdreht, warfen sie sich in den Schnee, heulten und schlugen um sich wie von Sinnen. Dieses Schauspiel verfehlte seine Wirkung nicht, es gab Münzen wie Brot, doch bereits beim dritten Mal gerieten sie an die Falschen. In ihrem Eifer hatten sie nicht bemerkt, dass unter den Zuschauern zwei bewaffnete Schergen in ihren langen bunten Röcken standen. Sie wurden an den Haaren in die Höhe gezerrt, erhielten einer nach dem andern deftige Hiebe und wurden zum nächsten Tor hinausgeschleift, unter der Androhung, sie würden allesamt am Pranger landen, ließen sie sich noch einmal in der Stadt blicken.
Bei Strafe einer weiteren Tracht Prügel verbot ihnen der Prinzipal, das Lager in den nächsten Tagen zu verlassen.
«Und nun?», fragte Marusch, nachdem die Kinder mit gesenktem Kopf im Wohnwagen verschwunden waren. «Wir haben nicht einmal mehr Kohle, um uns zu wärmen. Geschweige denn, etwas zu essen.»
«Morgen ist Sonntag.» Anna sah in die Runde. Ihre sonst so leise Stimme klang entschlossen. «Ich wäre bereit, mich vor die Stiftskirche zu stellen. Wer kommt mit?»
An diesem Nachmittag beschloss Marthe-Marie, Gott um Hilfe zu bitten. Ein eisiger Wind pfiff über die Schneewehen hinweg, als sie sich allein und entgegen Sonntags ausdrücklicher Anordnung auf den anstrengenden Weg zur Frauenbergkapelle machte. Ihre Beine, schwer wie Bleigewichte, schienen nicht zu ihrem Körper zu gehören, jeder einzelne Schritt hügelaufwärts bereitete ihr schier unüberwindliche Mühe. Vor ihren Augen flimmerte es. Überall endloses Weiß um sie herum. Die Füße in den durchlöcherten Stiefeln wurden zu Eisklumpen, die auf dem festgetretenen Pfad wegrutschten. Schemenhaft sah sie graue Gestalten, die wie sie bergaufwärts strebten und schwankten wie Betrunkene.Das Schwindelgefühl in ihrem Kopf, das Brausen in den Ohren nahm zu, sie glitt aus und versank bis zur Hüfte in einem Berg aus Schnee. Dankbar schloss sie die Augen. Wie wunderbar weich war es um sie herum.
«Ihr müsst aufstehen, sonst holt Euch der Tod.»
Die Stimme war rau, aber nicht
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