Die Tochter der Hexe
auszukosten.
Es schien Stunden zu dauern, bis sein Herz wieder langsamer schlug. Ihre dunklen Augen lächelten ihn an, als er sich über ihr Gesicht beugte.
«Marthe-Marie», flüsterte er.
Sie zog ihn an sich.
«Vielleicht sind wir wirklich füreinander bestimmt», sagte sie und sah ihn prüfend an. «Vielleicht hat uns das Schicksal jetzt endgültig zusammengeführt.»
«Ich gehe mit dir, wohin du willst, Marthe-Marie.»
«Dann lass uns hier bleiben. In Freudenstadt.» Sie lächelte, wurde jedoch sofort wieder ernst. «Aber jedoch ein einziges Mal noch möchte ich nach Freiburg zurück. Ich muss.»
Jonas hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. «Du weißt doch, in welche Gefahr du dich dort begibst.»
Sie lachte. «Dann werde ich mich eben als Nonne verkleiden. Nur für einen Tag.»
«Warum?»
Er wollte die Anwort nicht hören, denn er kannte sie schon.
«Ich möchte Mechtild wieder sehen. Sie soll wissen, was aus Agnes und mir geworden ist. Du weißt doch, wie viel ich ihr zu verdanken habe.»
Er ließ sich ins Gras fallen und blickte zur Seite.
«Mechtild ist tot.»
Ihre Lippen formten lautlos ein Nein, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Kaum hörbar kam die Frage: «Woran ist sie gestorben?»
Sein Magen krampfte sich zusammen.
«Woran ist sie gestorben?», wiederholte sie. Ihre Stimme klang jetzt fest und fordernd. Sie schüttelte ihn, bis er stockend antwortete.
«Vor Schwäche und Kummer. Sie haben sie eines Tages abgeholt und in den Christoffelsturm gesteckt. Das hat sie nicht überlebt.»
«Haben sie sie gefoltert?»
«Ja.» Seine Stimme zitterte.
«Wegen mir? Weil sie mich beherbergt hatte?»
«Bitte, Marthe-Marie, so darfst du nicht denken. Es ist nichtdeine Schuld. Es ist die Schuld dieser aufgehetzten Meute, dieser fanatischen Eiferer.» Er unterbrach sich. Tränen strömten über sein Gesicht.
«Was wurde ihr vorgeworfen?» Ihr Blick war leer.
«Sie habe eine Hexe beherbergt und in ihrem Auftrag ein Kind entführt, um es den Gauklern zum Zwecke der Schwarzmagie zu übergeben. Es tut mir so Leid, ich wollte, du hättest es nie erfahren.»
Plötzlich ging alles rasend schnell. Marthe-Marie schluchzte laut auf, er zog sie verzweifelt in seine Arme, presste sie an sich, als er plötzlich im Dämmerlicht eine Gestalt über sich stehen sah.
«Du gottverdammter Schelm!»
Diego riss ihn am Arm in die Höhe und versetzte ihm einen Faustschlag in die Magengrube. Mit einem Stöhnen klappte Jonas zusammen, doch Diego hatte ihn schon bei den Schultern gepackt.
«Alles zerstörst du, du hergelaufener Hundsfott. Wer gibt dir das Recht, mit Marthe-Marie herumzupoussieren?»
Wieder schlug er zu, diesmal mitten ins Gesicht. «Du gehörst nicht zu ihr», brüllte er. «Sie ist eine von uns.»
Diego raste vor Wut, auf seiner Stirn stand der Schweiß. Er bringt mich um, dachte Jonas, und hielt sich schützend den Arm vor das Gesicht, um den nächsten Angriff abzuwehren. In diesem Moment schlug ein armdicker Ast zwischen ihnen zu Boden.
«Verschwindet! Verschwindet alle beide.»
Marthe-Marie stand da wie ein Racheengel, wachsbleich, mit aufgerissenen Augen und wirrem Haar. Ihr Mieder und Leibchen standen noch offen und gaben die bloßen Brüste frei, der Rock war voller Gras und Zweige.
Jonas trat einen Schritt zurück.
«Sag es ihm, Marthe-Marie. Sag ihm, dass wir zusammengehören.»
«Wir können niemals zusammengehören. Niemals!» Ihre Stimme überschlug sich. «Wegen mir musste Mechtild sterben. Und weißt du warum? Es liegt ein Fluch auf mir. Der Fluch der Hexentochter.»
Sie ließ den Ast fallen und rannte davon in Richtung Viehweide. Wie im Nebel sah Jonas, wie ihre Gestalt immer kleiner wurde, zu einem winzigen Punkt zusammenschmolz. Er hörte Diegos rasende Flüche, spürte, wie dessen Knie in seinen Unterleib schnellte, dann brach er zusammen.
Seine Hände krallten sich in der Erde fest. Er fühlte das kühle Gras an seiner Wange, das Marthe-Marie und ihm vor wenigen Augenblicken und vor tausend Ewigkeiten als Bettstatt ihrer Liebe gedient hatte. Erschöpft schloss er die Augen. Es gab keinen Grund mehr aufzustehen.
20
Sonntag konnte es kaum fassen: Nicht nur, dass ihre Konzession bis Ende des Monats August verlängert worden war – zum ersten Mal in seiner Laufbahn als Prinzipal hatte seine Compagnie zu einem weiteren Gastspiel eine höchst offizielle Einladung bekommen. Ein Amtsbote des benachbarten Städtchens Dornstetten war nach ihrer vorletzten Vorstellung in
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