Die Tochter der Hexe
nie hatte sie sich in der Umarmung eines Mannes so frei gefühlt. Sie hatte gar nicht geahnt, wie berauschend und erfüllend die Liebe für eine Frau sein konnte. Bei Veit hatte sie derlei Erfahrungen nie gemacht.
Am Morgen danach hatte sie sich von einem Nagelschmied zum anderen durchgefragt, bis sie auf Jonas’ Quartiermeister gestoßen war. Der hatte ihr berichtet, der junge Schulmeister sei erst am frühen Morgen heimgekehrt, wortlos und mit einer Menge Beulen und Schrammen am Leib. Er habe sofort seine Sachen gepackt, ihn ausbezahlt und dann die Stadt verlassen. Nein, er wisse nicht wohin, und der junge Mann habe auch keine Nachricht hinterlassen.
«Ich schmiede große Pläne für die Truppe», hörte sie Sonntag dem Wirt sagen. «Bevor hier oben der Winter einbricht, ziehen wir hinunter ins Neckartal. Und dann, immer schön flussabwärts, Richtung Residenz. Wir wollen versuchen, in Stuttgart fürstliche Protektion zu erlangen, um im ganzen Land leichter an Lizenzen zu kommen.» Er nahm einen kräftigen Schluck. «Gerade im Winterhalbjahr, wenn kaum Messen und Märkte stattfinden, ist es ja schier unmöglich, in den Städten eine Aufführungsgenehmigung zu bekommen. Wenn wir nicht gerade bei einer Bauernhochzeit spielen dürfen, schlagen wir die Zeit auf irgendeiner Viehweide tot, wo wir mehr oder weniger geduldet werden, wenn sie uns nicht gleich wieder verjagen. Ein Empfehlungsschreiben vom Herzog Friedrich, das wär’s, das würde uns Tür und Tor öffnen.»
«Ihr müsst wissen», mischte sich Marusch ein, «mein Mannträumt seit Jahren davon, dass unserer Truppe der Titel Hofkomödianten verliehen wird und wir dann alle Sorgen los sind.»
«Warum nicht? Wir sollten es zumindest versuchen. Der Herzog ist ein sehr aufgeschlossener und kluger Herrscher, das hört man überall.»
Marthe-Marie waren Sonntags Pläne einerlei. Sie fühlte sich wie in einem Kahn ohne Ruder, der über den See treibt, und einen anderen Wunsch, als sich ziellos treiben zu lassen, verspürte sie auch nicht.
Diego sah zu ihr herüber. Seine Augen waren stumpf vor Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. Sie wandte sich ab. Was an Freundschaft und Nähe zwischen ihnen entstanden war, hatte er mit seinem Zornesausbruch zerstört.
21
Dem Herbstlaub der Wälder blieben nur wenige Tage, um seine rotgoldene Pracht zu entfalten. Schon Mitte Oktober tobten die ersten Stürme über die Höhen des Schwarzwaldes und rüttelten an Ästen und Zweigen.
«Ich fürchte, der Winter kommt dieses Jahr früh», meinte Mettel. «Wir sollten talabwärts ziehen.»
Sie war gerade von einer ihrer morgendlichen Runden zurückgekehrt, bei denen sie alles sammelte, was Feld, Wald und Wiese boten. Mehr als einmal war sie dabei irgendwelchen Flurschützen und Feldmeistern nur in letzter Sekunde entwischt. Jetzt im Herbst brachte sie Huflattichsamen gegen Husten, Hagebutten gegen Winterfieber und jede Menge Haselnüsse mit.
Marthe-Marie und Marusch hockten mit Lisbeth und Agnes im Windschatten ihres neuen Wagens und knackten Nüsse. Sonntaghatte wahrhaftig keine Kosten gescheut: Mit den zwei kleinen Fenstern, die mit Rindsblase bespannt waren und bei Schlechtwetter mit dicken Läden geschlossen werden konnten, der Tür im Heck und dem geteerten Dach stellte der Wohnwagen ein richtiges Haus auf vier Rädern dar.
«Ich fürchte, Leo wird sich nicht darauf einlassen.» Marusch schaufelte die Nussschalen in einen Eimer. «Er will heute Mittag bei den Dornstetter Ratsherren vorsprechen, um eine Verlängerung bis in den November zu erwirken. Außerdem – wir haben Ostwind, es ist zwar kalt, aber wunderbar klar.»
Doch die alte Köchin ließ nicht locker. «Du weißt, was los ist, wenn wir mit unseren schweren Karren in Schnee oder Schlamm geraten. Dazu hier oben in den Bergen. Um ehrlich zu sein: Ich bin mir sicher, dass das Wetter bald umschlägt. Ich habe Schmerzen an meinem goldenen Zahn.»
«Vielleicht sollten wir Salome um Rat fragen.» Marthe-Marie zog sich ihren Umhang fester um die Schultern. «Schließlich kann sie in die Zukunft sehen.»
Marusch lachte laut auf. «Das Einzige, was die kann, ist, ihren Besuchern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Da vertraue ich lieber auf Mettels Goldzahn. Wartet hier, ich werde mit Leo reden.»
Als sie nach über einer Stunde zurückkehrte, lächelte sie befriedigt. «Wir brechen übermorgen auf, ohne Umwege hinunter ins Neckartal nach Horb.»
«Bekommst du eigentlich immer deinen Willen?» Marthe-Marie konnte
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