Die Tochter der Hexe
vertrieben.
Eine schmale Frauenhand legte sich ihm über die Augen.
«Gehen wir?»
Jonas nahm die Hand und wandte sich um. In ihrem hellblauen Leinenkleid, das um den Hals weit ausgeschnitten war, und mit dem hochgesteckten schwarzen Haar sah Marthe-Marie wie eine Königin aus.
«Gehen wir.»
Er ließ ihre Hand nicht los, als sie durch die Gassen stadtauswärts schlenderten, die saftig grünen städtischen Viehweiden durchquerten und schließlich einen Waldweg erreichten, der leicht bergauf führte. Auf einer sonnigen Lichtung machten sie Rast. Zum Greifen nah schienen die Dächer und Türme der Stadt, doch kein Laut, kein Hämmern und Klopfen drang durch die sommerlich warme Luft bis hier herauf.
Jonas breitete seine Jacke aus, und sie setzten sich dicht nebeneinander auf die Wiese, die von den unzähligen Blüten des Storchenschnabels in zartem Blau schimmerte.
«Und du willst tatsächlich nicht wieder nach Freiburg zurückkehren?»
«Nein.» Er pflückte einen kleinen Stängel Ehrenpreis und steckte ihn in ihr Haar. «Ich habe alles, was ich besitze, bei mir.»
«Dann warst du dir wohl sehr sicher mit mir?»
Er wirkte verlegen.
«Um ehrlich zu sein, nein. Aber es gab noch einen anderen Grund wegzugehen.» Er zögerte. Hätte er nur nicht damit angefangen. Es war so herrlich, mit Marthe-Marie hier zu sitzen, an diesem friedlichen Sommernachmittag. An die Grausamkeit der Menschen mochte er jetzt am allerwenigsten denken.
«Welchen Grund?»
«Ein andermal. Ich mag jetzt über diese Dinge nicht reden.»
«Welche Dinge?»
Er schüttelte den Kopf.
Marthe-Marie ließ nicht locker. «Verheimlichst du etwas? Wenn es mich oder uns beide betrifft, musst du es sagen.»
«Es ist – ich habe es nicht mehr ausgehalten. In Freiburg brennen wieder die Scheiterhaufen.»
«Das ist nicht wahr.» Entsetzen stand in Marthe-Maries Augen.
«Doch. Drei Frauen. Sie haben nach mehrfacher peinlicher Befragung gestanden und weitere abgebliche Teufelsbuhlen angegeben. Das Brennen und Morden wird weitergehen.» Seine Stimme wurde schroff. «Nach allem, was ich von Textor erfahren habe, weiß ich nun, dass es Unschuldige sind, die sie da umbringen.»
«Genau wie meine Mutter», sagte Marthe-Marie tonlos.
Er schwieg. Was war nur in die Menschen gefahren? Er verstand das alles nicht. Keine Pestepidemie, keine Hungersnot bedrohte sie, seit Jahren herrschte Frieden im Land – warum schwangen die Menschen sich allerorten zum Richter über Leben und Tod ihrer Mitmenschen auf? Als er spürte, wie Marthe-Marie zitterte, zog er sie fest an sich. Da war noch etwas, doch er war zu feige, es ihr zu sagen.
«Und du glaubst wirklich nicht an Teufelsbuhlschaft und Hexenverschwörungen?», flüsterte Marthe-Marie.
«Zweifelst du daran?»
«Nein, Jonas. Jetzt nicht mehr. Aber ich habe Angst. Angst davor, dass der Ruch der Hexentochter für immer an mir haftenbleibt, gleichgültig, in welche Stadt ich mich flüchte. Würdest du damit leben wollen? Hier bei den Spielleuten fragt niemand nach meiner Herkunft.»
«Ich könnte mit allem leben, weil ich dich liebe.»
Er war selbst erstaunt, wie leicht ihm dieses Bekenntnis über die Lippen kam. Noch nie hatte er einer Frau so etwas gesagt. Er spürte Marthe-Marie in seinem Arm, wie sie sich warm und leicht an ihn lehnte. Sie zitterte nicht mehr. Niemals würde er zulassen, dass dieser Frau Unrecht geschähe.
Die Schatten wurden länger. Über die Wipfel der Tannen schob sich ein runder bleicher Mond, der ferne Ruf eines Käuzchens kündete von der einsetzenden Dämmerung.
«Es ist spät.» Marthe-Marie durchbrach das Schweigen. «Wir müssen zurück, bevor es dunkel wird.»
Viel zu rasch erreichten sie die Allmende vor der Stadt. Frauen und Männer kehrten schwatzend oder singend von ihrer Feldarbeit in die Stadt zurück.
«Warte.» Jonas zog sie in den Schutz eines kleinen Buchenhains. Dann tat er das, wovon er so oft geträumt hatte: Er umfasste ihr Kinn und küsste sie zärtlich, hielt sie fest in den Armen, streichelte ihren Nacken, ihre Schultern, ihre festen Brüste unter dem rauen Leinenstoff. Und sie erwiderte seine Zärtlichkeiten, sank mit ihm ins Gras und gab sich seinen Küssen und Berührungen hin. Wie zart ihre Haut war, wie schmal und zugleich kräftig ihr Leib. Ohne Scheu erkundeten ihre Hände und Lippen einander, jede Stelle ihrer Körper, bis nichts mehr fremd war zwischen ihnen und es kein anderes Begehren mehr gab, als ihre Leidenschaft endlich bis zum Letzten
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