Die Tochter der Hexe
bin auf der Suche und weiß nicht, wonach, ich bin auf der Flucht und weiß nicht, vor wem. Wenn ich nicht Marusch und die anderen hätte, ich glaube, ich würde verrückt werden. Soll ich dir sagen, wie es mir geht, wenn wir länger als sieben, acht Tage am selben Ort sind? Dann schlafe ich nachts schlecht und habe tagsüber Angst, dass mich jemand festhält und mir ‹Hexentochter› ins Ohr brüllt.»
«Ist das wahr?»
«Es ist schrecklich. Wie ein Fluch, den ich nicht loswerde. Nur in Freudenstadt geht es mir seltsamerweise nicht so, obwohl wir hier nun schon seit drei Wochen gastieren. Diese Stadt ist anders.»
«Ja aber verstehst du nicht, was das bedeutet? Hier bist du endlich zur Ruhe gekommen, das ist es. Du kannst nicht ohne Ende, Woche um Woche, Monat um Monat, von einem Ort zum anderen ziehen. So wirst du niemals Frieden finden.»
Dann lächelte er sie an. «Also magst du mich doch?»
Marthe-Marie musste lachen. Anstelle einer Antwort zog sie die kleine Papierrolle aus ihrer Geldbörse.
«Deine Nachricht. Ich trage sie immer bei mir, wie einen Talisman.»
«Könntest du – könntest du dir vorstellen» – seine Stimme klang rau –, «mit mir zusammenzuleben und eine Familie zu gründen? Nein, warte, sag nichts. Ich möchte, dass du darüber nachdenkst. Wenn du einverstanden bist, bleibe ich ein paar Tage hier, in deiner Nähe, ohne dich zu bedrängen. Und wie auch immer du dich dann entscheidest: Ich werde deinen Entschluss respektieren.»
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und entzog ihm gleich darauf ihre Hand.
«Agnes wird mich schon vermissen, ich muss zurück. Kommst du zu unserer Aufführung?»
«Ich werde da sein.»
«Vierundzwanzig mal achtzehn ergibt vierhundertundzweiunddreißig.»
Marthe-Marie machte ihre Sache wieder hervorragend. Die Ergebnisse kamen pfeilschnell. Sie trug sie mit dumpfer Stimme vor und hielt dabei die Augen unter den buschigen falschen Brauen geschlossen, die Hände nach oben gestreckt, als empfange sie ihre Antworten aus dem Jenseits.
Jonas hörte, wie die Umstehenden tuschelten. «Wie kann einMensch so schnell rechnen?» – «Wart ab, es wird noch besser. Und am Ende wird er in eine Frau verwandelt.» – «Das gibt es nicht, du Hohlkopf. Dann ist das auch in Wirklichkeit eine Frau.» – «Selber Hohlkopf! Hast du schon mal eine Frau gesehen, die so schnell rechnen kann?»
Jonas musste grinsen. Marthe-Maries Fähigkeiten waren wirklich außergewöhnlich, er war stolz auf sie. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Diego zu. Er konnte nicht verhindern, dass er den Spanier, seitdem sie sich hier zum ersten Mal wieder gesehen hatten, mit Argusaugen beobachtete. Der Kerl war ganz offenkundig in Marthe-Marie verliebt, so wie er sie immer anblickte. Und eifersüchtig auf ihn, Jonas, war er auch. Wie Luft behandelte er ihn.
Jonas musste husten, als die dichte Rauchwolke über der Bühne aufstieg und Marthe-Maries Verwandlung einleitete. Sekunden später stand sie da, in der bezaubernden Schönheit einer Helena, und lächelte dem Publikum zu. Da nahm Diego ihre Hand und drückte ihr – was er noch nie getan hatte – einen galanten Kuss auf den Handrücken. Doch damit nicht genug, er küsste auch ihre Wange und führte sie, den Arm fest um ihre Hüfte, zur Rückwand der Bühne.
Jonas biss sich auf die Lippen. Diego wusste genau, dass er unter den Zuschauern war. Versuch du nur dein Glück, dachte er, aber gewinnen wirst du nichts. Liebe ist kein Spiel. Dieser Diego war doch ein Vagant durch und durch, ohne Wurzeln und ohne Grundsätze. Ein unsteter Zugvogel, der Marthe-Marie nur benutzte, um wenigstens einen festen Punkt im Leben zu haben. Doch einer Frau zu Gefallen würde er sein Leben niemals ändern. Lass dich nicht blenden von diesem Komödianten, Marthe-Marie, flüsterte Jonas und spürte, wie sich seine Fäuste ballten. In diesem Moment trat sie, da der Beifall nicht enden wollte, noch einmal auf die Bühne und deutete grazil einen Hofknicks an. Ihr Blickschweifte suchend über die Menge, bis sie Jonas entdeckte. Sie lachte und winkte ihm zu.
Sein Herz klopfte schneller. Was ging ihn dieser eitle Spanier an? Er eilte hinüber zum Eingang des Rathauses. Als er ihr zuvor vorgeschlagen hatte, einen Spaziergang vor den Toren der Stadt zu unternehmen, gleich nach ihrem Auftritt, war sie sofort einverstanden gewesen. Das Wetter war wunderbar, die Luft klar und angenehm, denn ein nächtliches Gewitter hatte die schwüle Hitze der letzten Tage
Weitere Kostenlose Bücher