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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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Sonntag hatte längst seinen imposanten Kugelbauch eingebüßt, aller anderen Gesichter waren schmal geworden in den letzten acht Wochen.
    Dieses Einschränken auf das Notwendigste, trotz harter täglicher Arbeit, war indes nicht das Schlimmste: Weit mehr bedrückte es Marthe-Marie mitanzusehen, wie die Stimmung der Gaukler mitjeder Woche, mit jedem Tag trostloser wurde. Sie verstand die Niedergeschlagenheit der anderen. Eingesperrt in der Enge der Stadt, hatten sie ihr Zuhause verloren: die Landstraße, ihren Tross, die freie Natur. Nun waren sie keine gern gesehenen Possenreißer und Komödianten mehr, die Abwechslung in den Alltag der Menschen brachten, sondern höchst überflüssige Schmarotzer und allen Anfeindungen rechtlos ausgeliefert.
    Und sie selbst? Mit Haut und Haaren hatte sie sich eingelassen auf das Leben der Spielleute. Sie hatte mit ihnen Erfolge gefeiert, hatte Gefahren ausgestanden und war in diese elende Lage geraten. Längst war ihr bewusst: Sie hatte ihre eigene Standesehre nicht nur verletzt, sondern aufgegeben. Nie wieder würde sie zu ihresgleichen zurückkehren können. Sie war eine Fahrende, der Wagen ihr Zuhause.
     
    Am nächsten Morgen besuchten sie gemeinsam die Frühmesse in der Heilig-Kreuz-Kirche, die sich am höchsten Punkt des Bergsporns über der Stadt erhob wie ein würdevoller Wächter über den Glauben seiner Schäfchen. Schon am Vorabend hatten sie sich gemüht, ihre Röcke und Umhänge einigermaßen ansehnlich zu richten, waren den Flecken mit Bürste und Asche zu Leibe gerückt. Doch augenscheinlich war alles umsonst gewesen. Als sie im Strom der Menschen die Bußgasse hinaufstiegen, spürte Marthe-Marie die Blicke der Bürger an ihnen kleben. Misstrauisch, abschätzig, verächtlich. «Die reinsten Zigeuner», hörte sie eine ältere Frau neben sich geifern. «Seit Wochen schon treiben sie sich in unserer Stadt herum. Beim Bettelwirt im Tal wohnen sie.»
    Marthe-Marie wusste längst, dass der Wirt ihrer Herberge mit diesem Namen geschmäht wurde. Mehr als einmal war die Scharwache in ihre Schlafkammer eingedrungen und hatte Bettler oder Landstreicher herausgezerrt und abgeführt. Ihnen hatte man bislangnoch nichts anhaben können, hatten sie doch ordnungsgemäß ihren Stadtzoll entrichtet und gingen einer Arbeit nach.
    Sie nahm Agnes’ eisige kleine Hand und drückte sie fest. «Heute ist Weihnachten. Freust du dich?»
    «Ja!» Die dunkelblauen Augen des Kindes strahlten.
    Man sah den Atem vor den Gesichtern, so bitterkalt war es in der Kirche. Als mit feierlichen Klängen die Orgel einsetzte, konnte Marthe-Marie nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Zugleich begann sie vor Kälte zu zittern. Diego, der neben ihr stand, legte den Arm um sie und zog sie fest an sich. Agnes wickelte er in seinen langen, löchrigen Umhang. Wie eine kleine verlorene Familie standen sie in diesem riesigen Gotteshaus, eingehüllt in den herben Duft des Weihrauchs, und lauschten dem lateinischen Singsang des Priesters.
    Später reihte sich Marthe-Marie ein in die lange Reihe der Kirchgänger, um das Sakrament des Abendmahls zu empfangen. Als Einziger blieb Diego zurück, mit den beiden Kleinen an der Hand. Jeder wusste, was er von der Eucharistiefeier hielt. «Die Muselmanen verachten uns Christen», hatte er einmal bemerkt, «weil wir, wie Barbaren, den Leib unseres Gottes essen.» Marthe-Marie war entsetzt gewesen über diese Blasphemie.
    Mit dem Segen des Priesters verließen sie die Kirche. Draußen erwartete sie eine Überraschung: Alles lag unter einer blendend weißen Schneedecke, und noch immer rieselten feine weiße Flocken herab. Marthe-Marie vergaß Kälte, löchriges Schuhwerk, ihre armselige Unterkunft und freute sich an der festlichen Stimmung, die der Schnee über die Gassen und Plätze gezaubert hatte. Ohne Eile und über zahlreiche Umwege kehrten sie in die Herberge zurück, die Kinder tobten mit roten Wangen voraus und bewarfen sich mit Schneebällen.
    Zur Feier des Hochfestes hatte der sonst so geizige Wirt nicht an Holz gespart und die Schankstube bereits am Vormittag eingeheizt.Alle Gesichter glühten, als sie den warmen Raum betraten und sich aus ihren Mänteln und Umhängen schälten. Mettel verschwand sofort in der Küche. Sie hatte den Wirt überreden können, Herd und Pfannen benutzen zu dürfen, um das Weihnachtsmahl zu bereiten. Bald roch es verführerisch nach knusprigen Pfannkuchen.
    Seltsam, dachte Marthe-Marie, als sie sich mit den anderen an

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