Die Tochter der Hexe
walkten, stanken sie gottserbärmlich nach ranzigem Fisch.
«Ach du!» Sie gab ihm einen Klaps in den Nacken.
«Was machst du eigentlich so früh am Nachmittag hier?», fragte ihn Marusch.
«Der reiche Ölmüller braucht meine Dienste nicht mehr.»
«Hast du denn nicht woanders nachgefragt?»
«Selbstverständlich, meine Beste. Ich bin sofort zu Maximus und Sonntag in die städtische Getreidemühle, aber die beiden hocken auch mehr herum, als dass sie arbeiten. Dann bin ich zur Walkmühle, zu den Reibe- und Bleumühlen der Tuchmacher. Ich war bei den Lohmühlen, in der Schleifmühle, in der Sägemühle – du siehst, ich habe sämtliche Mühlen in und um Horb abgegrast, doch ein Lastträger wurde nirgendwo gebraucht. Da habe ich mir erlaubt, einen Spaziergang in Gottes schöner Natur zu machen. Und uns eine Kleinigkeit mitgebracht.»
Er öffnete ein Tuch, das prall gefüllt war mit Maronen.
«Hast du die etwa gestohlen?», fragte Marthe-Marie. Rund umdie Stadt war es bei Strafe verboten, ohne Genehmigung Wildfrüchte zu sammeln.
«Sagen wir: gefunden.» Er grinste. «Damit können wir unser morgiges Weihnachtsmahl bereichern. Ich schlage vor, als dritten Gang zwischen geschmorter Ochsenzunge auf Süßkraut und Wachtelbrust in Mandeltunke.»
Nach und nach kehrten, bis auf Salome, alle in die Herberge zurück. Auch Isabell, Antonia und Clara kamen nicht mit leeren Händen. Angesichts des bevorstehenden Weihnachtsfestes hatte Clara außer ein paar Eiern noch ein fettes Stück geräucherten Schweinespecks zum Lohn bekommen. Und Isabell und Antonia brachten ein Säckchen Eichelmehl. Sie hatten tatsächlich beim Bannwart der Stadt erwirkt, so viele Eicheln sammeln zu dürfen, wie sie und die beiden Kleinen tragen konnten, und ihre Ausbeute anschließend zum Mahlen gebracht. Marthe-Marie konnte sich denken, wie es Isabell gelungen war, den Bannwart zu erweichen: Selbst bei dieser Kälte gab sie sich mit ihrem engen Leibchen und dem weit ausgeschnittenen Hemd darunter äußerst offenherzig. Im Übrigen war sie die Einzige, die einigermaßen sauber und adrett gekleidet wirkte. Wie ihr das gelang, war Marthe-Marie ein Rätsel.
Es versetzte ihr inzwischen jedes Mal einen Stich, wenn sie die anderen – sie selbst machte keine Ausnahme – in ihren zerlumpten Kleidern sah. Da sie keine Kleidung zum Wechseln besaßen, waren Röcke und Hosen abgetragen, fleckig und zerschlissen. Zum Ausbessern war kein Geld übrig, alles was nicht für die kärglichen Mahlzeiten und für die wöchentlichen Zahlungen an den Wirt verbraucht wurde, wanderte in Sonntags Lederbeutel. So sahen vor allem die Kinder mit ihren ewigen Rotznasen mittlerweile nicht viel besser aus als die Ärmsten der Armen in der Stadt.
Hinzu kam, dass in den letzten zwei, drei Wochen immer häufigereiner von ihnen ohne Lohn und Arbeit gewesen war. Es schien, als drängten mit der Kälte des einbrechenden Winters immer mehr Bedürftige und Arbeitssuchende in die Stadt, um sich gegenseitig die letzten halbwegs einträglichen Arbeiten wegzuschnappen. Sie und Marusch hatten Glück gehabt: Nachdem ihr erster Brotherr zwei Lernknechte eingestellt hatte und ihre Arbeitskraft damit überflüssig geworden war, vermittelte er sie an jenen Sämisch-Gerber. Zwar war der Gestank dort schier unerträglich, doch dafür brachten sie einen Pfennig mehr am Tag nach Hause – bis vor zwei Wochen jedenfalls. Da hatte die Zunft einen neuen Pfleger für die Warenbeschau ernannt, der nun fast täglich erschien und mit Argusaugen die Häute, Blößen und Leder nach Mängeln untersuchte. Zu rügen fand er fast immer etwas, und zweimal verhängte er gegen den Meister Strafgelder. Die Folgen trugen die Gesellen und Tagelöhner: Sie wurden nicht ausbezahlt.
Marthe-Marie hätte ihrem Brotherrn die Ziegenhäute am liebsten vor die Füße geschleudert, so wütend war sie jedes Mal gewesen. Schließlich hatte sie ihre Arbeit so sorgfältig wie immer erledigt. Aber dann wären sie im nächsten Moment auf der Straße gelandet, alle beide wahrscheinlich, und das hätte sie nicht verantworten mögen. Es war zwar nicht viel mehr als ein Almosen, was sie täglich nach Hause brachten, aber es zählte ja jeder Pfennig.
Nicht dass sie am Verhungern waren, doch oft genug ging sie mit knurrendem Magen schlafen, weil sie von ihrer Ration den ewig hungrigen Kindern etwas zugesteckt hatte. Und sie war nicht die einzige unter den Erwachsenen, die hin und wieder auf ihren letzten Bissen verzichtete. Leonhard
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