Die Tochter der Hexe
den einzigen freien Tisch drängte, an wie wenig man sich doch freuen kann.
Ihr Leben lang war Weihnachten ein Fest des Überflusses gewesen. Die Stube war dann mit Lichtern, bunten Bändern und Buchszweigen geschmückt, ganze Platten mit Fisch, Braten, Gemüsen und Süßspeisen wurden aufgefahren, dazu Soßen, gewürzt mit Kostbarkeiten wie Zimt, Safran, Muskat und Kardamom, und Rotwein, so viel jeder wollte. Jetzt stand in der Mitte des Tisches eine einzige Kerze, die Sonntag für einen maßlos überteuerten Preis gekauft hatte. Und das Essen, das Mettel mit Antonias Hilfe auftrug, war im Grunde armselig, auch wenn es eine Abwechslung darstellte zu der ewigen Sauermilchsuppe, die sie morgens und abends aßen, weil sie am billigsten war. Nun gab es Pfannkuchen aus Eichelmehl mit wenig Ei, eine dünne Scheibe Speck für jeden und hinterher die Maronen, die auf dem Gitter des Stubenofens schmorten. Zum Nachtisch würde jeder einen Bratapfel bekommen. Und doch: Es war ein Festessen, über das sie sich freute wie über ein unerwartetes Geschenk, denn Mettel hatte die Holzteller liebevoll mit Blättern und Trockenbeeren dekoriert, die flackernde Kerze verbreitete ein anheimelndes Licht, und sie hatten es warm und behaglich.
Salome, die während des Gottesdienstes zu ihnen gestoßen war, präsentierte nach dem Essen eine Überraschung: Ihr Wasserschlauch war gefüllt mit Zwetschgenwasser. Überschwänglich nahm der Prinzipal sie in seine kräftigen Arme: «Du kannst also doch zaubern!»
Sie ließen es sich gut gehen. Einer der Musikanten holte seine Sackpfeife, das einzige Instrument, das bei dem Überfall nicht verloren gegangen war, sie sangen und tanzten nach langer Zeit zum ersten Mal. Selbst der Wirt gesellte sich zu ihnen, obwohl an den anderen Tischen gewürfelt wurde.
Marthe-Marie stieg der Branntwein sofort zu Kopf, doch es war ein wunderbares Gefühl der Leichtigkeit. Diego holte sie zum Tanz, neben ihnen wirbelte der Wirt mit Isabell über den Dielenboden. Sie sah das fein gewebte, türkisfarbene Tuch über den Schultern des Mädchens, das sie gestern noch nicht besessen hatte. Jetzt band Isabell es los und schwang es kokett vor dem Wirt durch die Luft. Ob das Tuch ein Geschenk war? Von einem heimlichen Verehrer? Isabell war in letzter Zeit hin und wieder später als ihre Freundin Antonia heimgekehrt. Ach was, das ging sie nichts an. Schließlich kümmerte sich das Mädchen um Agnes und Lisbeth, und dafür war sie ihr dankbar.
Als der letzte Ton der Melodie verklungen war, nahm Diego sie bei den Hüften und hielt sie in die Höhe.
Marthe-Marie musste lachen. «Lass mich runter!»
«Nur wenn du mir versprichst, mich niemals zu verlassen.»
«Ich verspreche es.»
Er nahm sie in die Arme und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.
«Wenn du lügst, bist du noch schöner», grinste er.
Der Wirt ließ mehrere Krüge Bier auffahren. Redselig wie selten, erzählte Sonntag haarsträubende Geschichten aus fremden Ländern und fernen Erdteilen. Erzählte von Indien, wo man Einäugige und Menschen mit Hundsköpfen gefunden habe, von Afrika, wo Missionare bei Menschen gelebt hätten mit so großen Lippen, dass sie ihr ganzes Gesicht damit bedecken konnten, und wo sich im Urwald riesige Vogelmenschen versteckten. Dabei sprang er auf, krümmte sich, verrenkte Arme und Beine, verzerrte dasGesicht und erweckte so die wunderlichsten Kreaturen und Monstrositäten zum Leben.
Die Frauen lachten so schallend, dass die niedergebrannte Kerze vollends erlosch. Der Wirt brachte eine neue.
«Wisst ihr, dass man in Straßburg neuerdings mannshohe Tannenbäume in die Stube stellt?», fragte Diego. «Daran hängt man Rosen und buntes Papier, Äpfel und Zuckerkringel. Aber das Unglaublichste ist: Wer es sich leisten kann, stellt Kerzen auf die Zweige.»
«Was für ein Unfug.» Marusch schüttelte den Kopf. «Der ganze Baum kann doch in Flammen aufgehen.»
«Deswegen hat man das auch umgehend verboten. Aber die Elsässer sind dickköpfig. Wahrscheinlich brennen in diesem Augenblick wieder etliche Wohnungen und Häuser aus.»
«Mir würde das gefallen. Ein ganzer Baum voll leuchtender Kerzen.» Marthe-Marie spürte eine wohlige Müdigkeit. Sie lehnte ihren Kopf an Diegos Schulter, schloss die Augen und lauschte dem Geplauder ihrer Tischnachbarn. Wie schön dieser Tag trotz alledem war.
Lautes Poltern ließ sie auffahren. Die Tür zur Schankstube wurde aufgerissen, und zwei bewaffnete Büttel traten ein. Schlagartig
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