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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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führe ich immer noch ein Zigeunerleben. Und wir beide haben etwas gemeinsam: Wir sind wie Kuckucksküken in fremden Nestern groß geworden.»
    «Aber im Gegensatz zu dir weiß ich, wer meine Mutter und mein Vater waren.»
    Marusch nickte. «Da kannst du dich glücklich schätzen.»
    «Und wie bist du zu den Gauklern gekommen?»
    «Da liegen noch etliche Jahre dazwischen. Mit fünf oder sechs Jahren – unsere Sippe war inzwischen nach Oberschwaben gezogen – erfuhr ich zum ersten Mal im Leben, wie grausam das Schicksal zuschlagen kann. Ich erinnere mich noch genau: Ich saß an einem kleinen Bach und spielte vor mich hin, da erhob sich im nahen Lager ein furchtbarer Lärm. Gebrüll, Schmerzensschreie,lautes Knallen wie von Musketen, dann der Geruch von Feuer. Vor lauter Angst rührte ich mich nicht vom Fleck, hielt mir die Hände an die Ohren, wollte nichts sehen und nichts hören. Ich war mir sicher, die Welt würde untergehen. Und so ähnlich war es auch, denn als ich Stunden später durch die plötzliche Stille wieder zu mir kam und es wagte, ins Lager zurückzukehren, fand ich nur noch rauchende Trümmer. Alles war niedergebrannt, überall lagen Leichen am Boden mit verrenkten oder abgeschlagenen Gliedern, in Lachen von Blut. Ich fand meine Spielkameraden und Stiefgeschwister, alle tot, doch Großmutter und das Oberhaupt der Sippe waren spurlos verschwunden. Ich setzte mich neben unseren verkohlten Wagen und wartete darauf, selbst zu sterben. Gegen Abend fand mich eine Bäuerin und brachte mich ins nahe Ravensburg. Ich weiß bis heute nicht genau, was geschehen war, doch damals begriff ich, dass Zigeuner für die meisten Leute lästiges Ungeziefer sind, das man ungestört totschlagen darf.»
    «O mein Gott», entfuhr es Marthe-Marie. «Und was geschah dann?»
    «Die gute Frau gab mich bei den Beginen ab, den barmherzigen Schwestern der Sammlung zu St.   Michael. Wie Nonnen lebten die frommen Laienschwestern in Klausur, und ihr Alltag war von Gebet und Kontemplation bestimmt. Es erging mir nicht übel dort, ich hatte ausreichend Essen und Kleidung, doch ich durfte das Haus nur verlassen, um Almosen zu sammeln. Ich hab mich gefühlt wie ein angekettetes Tier. Das Leben hinter diesen dicken, düsteren Mauern ist in meiner Erinnerung von Schweigen, Arbeit und Beten bestimmt. Und drei Jahre lang habe ich fast täglich um Almosen gebettelt. Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich über Antonias Vorschlag so wütend wurde. Irgendwann – ich war etwa zehn – äußerten die Schwestern den Wunsch, der Gemeinschaft der Franziskanerinnen bis zu ihrem Tod anzugehören, und ich wurde Zeuge, wie eine nach der anderen ihre Profess ablegte, wie sie sichmit ausgebreiteten Armen vor dem Altar zu Boden warfen, wie ihnen die Haare abgeschnitten und Brusttuch und Schleier angelegt wurden. Dann gelobten sie in die Hand des Franziskanerpaters Armut, Keuschheit und Gehorsam auf ewig. An diesem Tag bin ich davongelaufen. Ich irrte in Oberschwaben herum, bis ich auf einen Hausierer stieß, der für mich sorgte und später mein Mann wurde, obwohl er viel älter war. Jetzt kennst du meine Geschichte.»
    Marthe-Marie strich ihr über den Arm und blickte sie lange still an. Dann sagte sie: «Ich bin froh, dass du sie mir erzählt hast.»
     
    Die Tage wurden kürzer und kälter, Schneeregen wechselte sich mit Nebel ab. Im Dunkeln verließen Marthe-Marie und Marusch morgens ihre Herberge, verrichteten im Dämmerlicht der Werkstatt ihre harte Arbeit, um im Dunkeln wieder heimzukehren. Ihre einst sonnengebräunten Gesichter wurden bleich wie die Haut von Mehlwürmern, stets schmerzten Rücken und Hände, und manchmal fragte sich Marthe-Marie, wie lange sie dieses Leben durchhalten würde. Doch kein Wort der Klage kam über ihre Lippen. Stattdessen war sie dankbar für jeden Tag, an dem sie etwas zu essen hatten und die Kinder gesund blieben. Und sie freute sich, wenn am frühen Abend Diego zurückkam und sie mit seinem Witz aufheiterte. Er schien niemals, selbst in diesen düsteren Tagen nicht, seinen Humor zu verlieren.

24
    Das hättest du nicht tun dürfen, Mangoltin. Du hast den Bogen überspannt. Jetzt werde ich mir eine Marter ausdenken, wie ich sie noch keinen Menschen erleiden ließ. Ich werde dich an deinem wundesten Punkt treffen.
    Du hast mich fast umgebracht, zusammen mit deinem Buhlen. Ertrunken wär ich fast, tot, den Schädel haben mir die Felsen schier zerschmettert. Doch nun bin ich wieder bei Kräften. Gestärkt durch die

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