Die Tochter der Konkubine
patrouilliert worden, die Hunde hätten nicht angeschlagen. Ben entließ sie mit dem Auftrag, die Gartenanlagen abzusuchen, und bat Ah-Kin und seinen Sohn, jeden Zentimeter des Grundstücks zu durchforsten.
Neue Hoffnung erfüllte ihn. Fast verfluchte er sich, dass er seiner Fantasie gestattet hatte, ihm solche Streiche zu spielen. Natürlich, natürlich - Pai-Lings Tempel! Es war Gebetszeit. Sie war im Garten spazierengegangen und hatte die in der Nacht abgefallenen Frangipaniblüten für den Altar aufgesammelt. Als er die Ozeanterrasse überquerte, wollte er ihren Namen rufen, hielt jedoch inne, als er die offenstehenden Tempeltüren sah.
Aus irgendeinem Grund war der kleine Schrein für ihn immer tabu gewesen. Auch wenn sie ihn eingeladen hatte, dabei zu sein, wenn sie Räucherstäbchen anzündete und zu Kuan-Yins Füßen Papiergebete und Opfergaben verbrannte, hatte er sich stets als Eindringling gefühlt. Er fand, dass in ihm nicht genug Chinesisches steckte, um solch einen heiligen Ort mit ihr zu teilen.
Er näherte sich schweigend, hatte Angst, ihren Namen auszusprechen, betete nur, sie vor der Göttin kniend anzutreffen, mit Räucherstäbchen in den Händen. Er würde nie mehr von ihrer Seite weichen. Ein Lichtstrahl fiel über die Gebetsmatte, badete die Göttin mit seinem Licht.
Leise rief er Lis Namen, doch niemand antwortete. Im heller werdenden Licht leuchtete Kuan-Yin in all seiner Pracht. Davor hingen an ihren hellroten Leinen die blutbefleckten schneeweißen Pelze von Yin und Yang. Auf dem Boden, zu Scherben zertrampelt, lagen die verblichenen Gesichter und vergessenen Namen, die Li so in Ehren gehalten hatte, und die zerbrochenen Stücke eines lachenden Buddhas. Der unverkennbare Geruch menschlicher Exkremente und Urins raubte ihm den Atem.
Li Devereaux’ Leiche wurde von Hokko-Fischern aus dem Wasser gezogen, die bei Tagesanbruch mit ihrem Fang zurückkehrten. Sie legten sie auf die Anlegestelle und flohen, als sie Di-Fo-Lo die schmalen Felsstufen herunterhetzen sahen, als könne er fliegen. Sie blickten einander furchtsam an. Sie hatten nicht den Wunsch, die Schreie eines verrückten gwai-lo mitzuerleben, der ihnen vielleicht die Schuld an dem Entsetzlichen geben würde, das sie an ihrer Angelstelle nahe bei den Felsen herausgefischt hatten.
Ben wollte keine Hilfe, als er Lis Leichnam auf ihr Zimmer trug, und befahl Ah-Kin und den Wächtern, niemanden aufs Anwesen zu lassen. Als er sie vorsichtig auf das zerwühlte Bett gelegt hatte, wobei der Leichnam noch gut eingehüllt war, spürte Ben, wie er den Verstand verlor. Das Feuer in seinem Bauch verwandelte sich in Verzweiflung und zog ihn in ein dunkles Loch. Auf Beinen, die ihren Dienst zu versagen drohten, stürzte er auf der Suche nach Brandy in sein Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch lag ein Blatt Papier ordentlich vor seinem Stuhl. Niedergeschmettert erkannte er ihre Schrift, obgleich das Gekritzel kaum lesbar war.
Verzeih mir, was ich tun muss, aber es steht im Mond geschrieben. Unsere Tochter befindet sich in den Händen einer Person, der wir mehr als allen anderen vertrauen. Suche nicht nach ihr. Sie ist unterwegs an einen Ort, wo sie in Frieden und ohne das Böse, das unser Glück bedroht, aufwachsen kann.
Du hättest nichts tun können, um das Ganze zu verhindern. Es wurde von Mächten bestimmt, die viel größer sind als unsere. Wenn unsere Tochter groß geworden und die Gefahr gebannt ist, wird sie Dich finden, sofern auch das geschrieben steht.
Danke, mein junger Herr, dass Du mich die Bedeutung der Liebe gelehrt hast. Sie einen goldenen Augenblick lang zu kennen ist bereits genug, doch Du hast mir Reichtümer geschenkt, von denen ich nie zu träumen wagte.
Li-Schia
Ah-Kin blickte besorgt zu seiner Frau und seinem Sohn, als aus dem Haus ein verzweifeltes Brüllen ertönte: »Mein Kind! Wo ist mein Kind!« Die Seelenqualen in Di-Fo-Los Schrei zerrissen die friedliche Stille in den Ti-Yuan-Gärten, hallten durch die Mondtore und von den leeren parfümierten Zwischenwänden des Pavillons wider. Sie wurden aufs Meer hinausgetragen und brachten die Fischer dazu, den Kopf zu schütteln. Ah-Kin bedeutete seiner Familie, sitzen zu bleiben, stand dann rasch auf und verließ den Tisch.
Augenblicke später kehrte er mit angstvoller und gequälter Miene zurück. »Di-Fo-Lo ist bei Pai-Lings Tempel gewesen«, sagte er. »Er hat den Schrein mit bloßen Händen niedergerissen. Und er hat die Göttin der Barmherzigkeit genommen und sie
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