Die Tochter der Konkubine
ins Meer geschleudert!«
Indie da Silva verließ das Krankenhaus in Macao, um seinem Partner zur Seite zu stehen. Die einzigen weiteren Zeugen waren Hamish McCallum und Bens Freund und Rechtsanwalt Alistair Pidcock. Das Grab lag am Rande des Birkenwäldchens mit Blick auf das Meer und den Sonnenaufgang. Es erhob sich zu einem sanft gerundeten Hügel, der dicht mit wilden Veilchen und dunkelblauem Immergrün bepflanzt war, um Teil der Erde darumherum zu werden. Große Sträuße gelber Iris umgaben den niedrigen Bogeneingang, der mit Rosenquarz verschlossen war. Auf die Oberfläche eingraviert, zuerst mit chinesischen Schriftzeichen, dann auf Englisch, standen diese Worte:
HIER LIEGT EINE GELEHRTE. IHR NAME LAUTET LI-XIA DEVEREAUX.
1906-1924
Sie lief vor niemandem davon und versteckte sich vor nichts.
Ben hatte darauf bestanden, ihren Leichnam selbst in die rote Seide und den extravagant bestickten Staat einer Braut von nobler Herkunft zu kleiden. Er hatte sich gezwungen, ihr verstümmeltes Gesicht zu betrachten, und hatte es dann mit einem Brautschleier aus hauchfeiner Seide bedeckt und ihr Haar mit einer einzelnen Gardenie geschmückt. Er legte ihr eine große und vollkommene Perle auf die Zunge, um den Göttern zu zeigen, dass sie aus einer hoch angesehenen, vermögenden Familie stammte; in ihrer geschlossenen Hand lag eine aus milchfarbener Jade geschnitzte Zikade, die mit
einem Band am Finger befestigt war, damit sie nicht verloren gehen oder gestohlen werden konnte. Das war, so hatte sie ihm einst erklärt, der wirkungsvollste Talisman gegen böse Geister im Jenseits.
Allein für sich, hatte er sie mit Büchern umgeben, jedes davon sorgfältig ausgesucht. Ihr zur Seite legte er eine goldene Statue von Kuei-Hsing, dem Gott der Literatur. Dazu kamen die vom Tempelboden geretteten Fotografien und der lachende Buddha, den Ah-Kins Frau sorgfältig wieder zusammengefügt hatte. Der Hersteller himmlischer Besitztümer hatte einen Tag und eine Nacht lang daran gearbeitet, aus rotem und goldenem Papier ein Haus wie das am Fluss zu bauen. Dahinein hatte Ben die Briefe von Ah-Su und den mung-cha-cha gelegt. In eine Kopie des Lagonda aus grünem Glanzpapier hatte er zwei weiße Plüschhunde gestellt, mit Halsbändern und Leinen aus rotem Leder. Dann hatte er noch eine große Menge an Papiergeld hinzugetan. Der entstehende Rauch lag niedrig über dem Meer, als würde er sich nur ungern von der Villa Formosa losreißen.
Ben Devereaux blieb einen Tag und eine Nacht lang allein im Pavillon freudiger Momente. Beobachtet von Ah-Kin, aber ungestört, aß er weder etwas von dem, was ihm gebracht wurde, noch trank er den Tee. Er rührte sich nicht und saß so stumm da wie ein Stein. Als Ah-Kin am dritten Tag erwachte, war Ben verschwunden.
ZWEITER TEIL
Roter Lotus
18. KAPITEL
Kleiner Stern
An einem glühend heißen Novembernachmittag erreichte die Tochter von Ben und Li Devereaux auf einem Schiff den riesigen See von Tung-Ting in der Provinz Hunan.
Unter dem bleifarbenen Himmel erstreckte sich entlang seines endlosen Uferlands ein riesiges Sumpfgebiet, das von Kanälen und verborgenen Nebengewässern durchzogen war.
Am Zufluss des Sees, da, wo der Yangtze sich mit dem Yuan-Fluss vereinigt, stiegen viele der Passagiere aus. Sie waren beladen mit Geschenken, Strängen lebender Krebse und quiekenden Ferkeln und wurden unter Hundegekläff und Kinderkreischen mit vielmaligem Schulterklopfen begrüßt.
Diejenigen, die den See überqueren mussten, stiegen noch ein letztes Mal in einen flachen Sampan um, der hoch mit langen Schilfrohrbündeln beladen war. Dazwischen saß Fisch mit dem Kind, das, nachdem es für eine Kupfermünze an der vollen Brust eines Tankamädchens gestillt worden war, ruhig in dem mit Perlen besetzten Tragetuch lag. Fisch war erschöpft, doch gewiss, dass ihre Götter sie nicht verlassen hatten.
Keine menschliche Hand allein hätte das Boot sicher durch die reißenden Ströme des Yangtze und die Wind-Box-Schlucht lotsen und den Flussdrachen in den Schluchten des Hexenberges und des Passes »Goldener Helm« ausweichen können.
Als sie die Weißwasser-Stromschnellen an der Mündung des Yuan erreichten, in denen die alten Bohlen des Sampans beinahe auseinanderzufallen drohten, sah Fisch den Geist Li-Tieh-Kuais, des verkrüppelten Bettlers, der denen erschien, die auf dem Wasser
in Not gerieten. Sie war sich sicher, dass seine Eisenkrücke und sein Flaschenkürbis des Trostes über sie und das Kind wachen
Weitere Kostenlose Bücher