Die Tochter der Konkubine
bedeutungslose Worte, die Sing nicht hörte, sie glichen dem Möwengekreisch, das vom Wind herangetragen wurde. Sie wartete auf seine ersten Schritte.
Es war ein vorsichtiger Schritt, nur dazu gedacht, ihre Reflexe zu prüfen, und wurde problemlos abgewehrt. Sie analysierten die Stärken und Schwächen des anderen, lauerten auf das kleinste Anzeichen oder Geräusch, das eine Spur von Furcht verraten könnte. Sie beobachteten die Gleichmäßigkeit des Atems, das Durchhaltevermögen, den Kreislauf des Chi. Mit blitzartigen Schlägen nahmen die Klauen des Tigers Maß an den Schwingen des Kranichs. Eisenknochen prallten gegen Eisenknochen, um Griffen und Umklammerungen zu entgehen, sich daraus zu befreien, Tritte, die jedes normale Glied zertrümmert oder ein inneres Organ zerstört hätten, wurden abgelenkt und erwidert. Der Verteidigungstanz des Kranichs erhob sich mühelos vom Pfad des Tigers, seine Füße so tödlich wie Zähne und Klauen, sein tödlicher Schnabel beschlagen wie ein Schwert.
Die Worte ihres Meisters waren genauso Teil von ihr wie der Anteil ihres Chi: Hast du es auf den oberen Teil abgesehen, täusche vor, dein Ziel wäre der untere; möchtest du den unteren angreifen, tue zunächst so, als zieltest du auf den oberen. Sei dir der Rechten bewusst, um die Linke anzugreifen; um die Rechte anzugreifen, sei dir der Linken bewusst. Kümmere dich sowohl um die oberen als auch die unteren Teile; stimme die Linke und die Rechte aufeinander ab. Blocke ab und greif dann bei der ersten Gelegenheit an. Verteidigung sollte stets von Angriff begleitet sein; Angriff von Verteidigung. Derjenige,
der gewinnt, ohne im Voraus abzublocken, ist ein Experte; derjenige, der nur den gegnerischen Schlag abblockt, aber nicht gleichzeitig angreift, der Unterlegene.
Ah-Keung stob davon und wirbelte dann herum, um sich seiner Widersacherin aus einer Entfernung von mehreren Schritten zuzuwenden. »Wir haben einander viele wertvolle Augenblicke lang auf die Probe gestellt, und dennoch schwitzen wir kaum.« Er grinste schief. »Vielleicht hat ein Gewehrlauf und die Geschwindigkeit einer Kugel ja doch etwas für sich, wenn man alte Rechnungen begleichen möchte.«
Ah-Keung kehrte ihr den Rücken zu, hob die Wasserflasche an ihrer mit Quasten versehenen Kordel und goss sich ihren Inhalt über den Kopf. Er schüttete sich Wasser in den Mund, spritzte ihr etwas davon vor die Füße und warf ihr dann die Kürbisflasche zu. »Trink, Roter Lotus. Schmecke die Süße des Wasser, so lange du es noch kannst.«
Sing vergrößerte den Abstand zwischen ihnen, ehe sie sich das kalte Wasser in den Mund goss. Den Bruchteil einer Sekunde, den sie zum Heben der Kürbisflasche brauchte, ließ sie ihn aus den Augen, schloss sie nicht mal einen Lidschlag lang, als ihr das Wasser ins Gesicht spritzte.
Eine Klinge durchschnitt grausam die Luft, und zwar so unverzüglich, dass ihr keine Zeit mehr blieb, das tödliche Summen des Shaolin-Pfeils zu erkennen. Sie nahm nur verschwommen etwas Silbrig-Scharlachrotes wahr. Zu spät sprang sie hoch, doch Ah-Keungs Berechnung war perfekt gewesen. Als seien ihre Fußknöchel mit Stahl gefesselt, krachte sie ohne Hoffnung auf Wiedererlangung ihres Gleichgewichts auf den Felsen und schlug mit dem Kopf auf, so dass ihr schwarz vor Augen wurde.
Aus großer Entfernung erreichte sie Ah-Keungs Stimme - vom Ort des klaren Wassers vielleicht oder der schattigen Ecke im Kräuterschuppen. Sie bekam Ohrfeigen, links und rechts, bis sie sich an metallisch schmeckendem Blut verschluckte. Die Ohrfeigen hörten auf, und Ah-Keung tätschelte sie zärtlich mit seiner harten Hand.
»Schon besser, Kleiner Stern. Es wäre eine Beleidigung, wenn du einschliefest, bevor ich mit dir fertig bin.« In einer Welle flutete das Bewusstsein zu Sing zurück, doch sie ließ es sich nicht anmerken. Seine Finger umschlossen ihre Kehle.
Ihr war vollkommen klar, was geschehen war. Sie hatte schon oft vom Shaolin-Pfeil gehört, einer mit einem Gewicht versehenen Metallspitze, die durch rote Bänder in Form eines Schwalbenschwanzes gerade gehalten wurde und an einem Seil befestigt war, das so geschmeidig war wie Seide und so stark wie Stahl. Leicht zu verbergen durch weite Hosen oder um die Taille in den Falten der Schärpe, war sie in kundigen Händen wie die Zunge der Schlange. Dass er heimlich eine solche Waffe bei sich führen könnte, hatte sie nicht bedacht und verfluchte sich nun für ihre Dummheit. Das, was das Auge sehen kann, sollte
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