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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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es daher, die sich um den langen Tisch im großen Saal des Hauses von Johann Kyndorp drängten, auf den nun zwei Knechte ballenweise Seide luden. Da die Zunft immer noch eines eigenen Zunfthauses ermangelte, war man im Haus des amtierenden Zunftmeisters zusammengekommen.
    Prüfend befühlten einige der Frauen die Stoffe, die sich auf dem Tisch stapelten, und ihre Mienen drückten höchstes Missfallen aus. Die Gewebe waren an vielen Stellen fehlerhaft, dort, wo Garn neu angesetzt worden war, hatten sich dicke Knoten gebildet, und die Ränder der Stoffe waren lappig und wellten sich. Das Urteil war längst gefallen. Man war sich einig – diese Seide verdiente den Namen nicht.
    Brigitta van Berchem war klein gewachsen, doch niemandem würde je der Fehler unterlaufen, die drahtige Amtsmeisterin mit den markanten Gesichtszügen zu übersehen. Ihre Nase sprang spitz hervor, und tiefe Furchen zogen sich von den Mundwinkeln herab zu einem scharfkantigen Kinn. Und so wandten sich auch jetzt die Blicke aller Anwesenden der energischen Person in den Dreißigern zu, die soeben, flankiert von ihrer Schwester Gunda, nach vorn trat.
    Lisbeth stieß Clairgin mit dem Ellbogen an und deutete verstohlen mit dem Kinn auf die Schwestern. »Die Berchem wie gewohnt mit ihrem Schatten«, flüsterte sie.
    Clairgin kicherte leise.
    Die Nichten von Bürgermeister Johann van Berchem traten immer gemeinsam in Erscheinung. Gunda war das um wenig größere, breitere und um nur weniges jüngere Abbild von Brigitta, doch ihre Gesichtszüge waren etwas weicher. Und sie war immer dort, wo auch Brigitta war, in diesem Fall vor den versammelten Mitgliedern des Seidamtes, obwohl sie gar nicht dem Zunftvorstand angehörte.
    Brigitta van Berchem warf einen wachen Blick aus dunklen Augen in die Runde, und das Tuscheln erstarb, als sie Irma eine Schere in die Hand gab. Schweigend, teilweise mit strafender Miene, starrten die Frauen auf die Schuldige, und während zwei von ihren Lehrmädchen den ersten Ballen abwickelten, setzte Irma die Schere an, die Lippen fest zusammengekniffen. Mit einem grässlichen Geräusch fuhren die Klingen in den Stoff, schnitten ihn entzwei, Elle für Elle. Das Werk von Wochen, ja, Monaten ging in Fetzen, glitt über die Tischkante hinab und kringelte sich wie welkes Laub auf den Bodendielen.
    Es fiel keine böse Bemerkung, keine Häme troff auf Irma herab. Aber andererseits verspürte auch keine der Anwesenden Mitleid mit der Seidenweberin. Wer so schlechte Seide zu verkaufen suchte, gefährdete den Ruf aller und hatte Strafe verdient.
    Ruchbar war die Sache bereits in Frankfurt geworden, als ein rotbezopfter flämischer Händler an Clairgins Stand in den Römerhallen getreten war. Kurz hatte er Clairgins Seide betrachtet, befühlt und dann mit Posaunenstimme ausgerufen: »Ja, das ist kölnische Seide! Nicht solch ein Gelumpe wie dort drüben!« Mit ausgestrecktem Arm hatte der Flame auf den Verkaufsstand von Irma van Neyll gewiesen.
    Lisbeth, die ihren Stand gleich neben dem von Clairgin hatte, ein paar andere Seidmacherinnen und darüber hinaus leider auch einige Käufer waren Zeuge dieses Zwischenfalls geworden.
    Clairgin hatte die Sache nicht zum Nachteil gereicht, denn das überschwengliche Lob des Seidenhändlers hatte andere Käufer an ihren Stand gelockt und ihr gute Umsätze eingetragen.
    Später am Tag, als sich ihnen die Gelegenheit bot, hatten Lisbeth und Clairgin Irmas Seide unauffällig in Augenschein genommen. Sie konnten dem Flamen nur zustimmen: Die Qualität war gänzlich unbefriedigend.
    Gleich nach ihrer Rückkehr waren die Damen und Herren vom Seidamt dann ihrer Pflicht nachgekommen und hatten, ganz so, wie es der Zunftbrief vorsah, Irmas Betrieb besichtigt und die von ihr hergestellte Seide näher untersucht. Alles, was nicht den Anforderungen genügt hatte, und das war das meiste, war beschlagnahmt worden, und zur Strafe musste Irma es nun vor den Augen des versammelten Seidamtes eigenhändig zerschneiden.
    »Ich bin sicher, Irma wird künftig viel Sorgfalt auf ihre Weberei verwenden«, bemerkte Clairgin, als sich die Versammlung auflöste und sie mit Lisbeth das Haus des Seidenhändlers Kyndorp verließ. Es dunkelte bereits, doch der Abend war milde, und das Versprechen des nahen Frühlings lag schon in der Luft.
    »Was sagst du?«, fragte Lisbeth abwesend.
    »Ich meine, diese Blamage wirkt mehr als die Geldstrafe, die Irma an die Zunft zu zahlen hat.«
    Lisbeth nickte beiläufig. Ihre Gedanken weilten

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