Die Tochter der Seidenweberin
keinen Besucher erwartet.
Noch in Reisekleidung, mit derbem Wams und ledernen Beinlingen, saßen zwei Männer bei Mertyn am Tisch, vor sich einen Krug mit Wein und gut gefüllte Becher. Ehe ihr Mann Lisbeth begrüßen konnte, war einer der Gäste, ein kräftiger, hochgewachsener Mann mit wirrem Blondschopf, aufgesprungen, hatte sie um die Mitte gefasst und schwenkte sie ausgelassen im Kreis.
Herman! Herman war heimgekehrt. Glücklich drückte Lisbeth ihren Stiefbruder an sich.
Als Herman seine Schwester endlich zu Boden ließ, wandte sie sich dem anderen Besucher zu. »Dann müsst Ihr Alberto sein«, schloss sie mit einem freundlichen Lächeln.
Der Südländer erhob sich und nickte. Weiß blitzten seine Zähne in dem sonnengebräunten Gesicht, und als er ihr Lächeln erwiderte, traf sie sein samtiger Blick unter dunklen Wimpern hervor. Neben dem großgewachsenen Herman wirkte Alberto beinahe zierlich, doch dieser Eindruck täuschte. Der Italiener war drahtig, und unter dem fein gefältelten Hemd, das er unter dem groben Wolltuch trug, zeichneten sich deutlich die Stränge seiner Muskeln ab. Er musste einige Jahre älter sein als Herman, die Mitte der dreißig hatte er sicherlich überschritten, schätzte Lisbeth. Auf jeden Fall hatte er die längsten Wimpern, die sie je bei einem Mann gesehen hatte.
»Komm, setz dich und trink einen Becher Wein mit uns«, sagte Mertyn. »Schließlich kommt dein Bruder nicht alle Tage aus Lucca zu Besuch.« Seine dunklen Augen blickten freundlich, und seine Züge blieben unbewegt. Einzig an der Weise, wie Mertyn den linken Mundwinkel verzog, erkannte Lisbeth den feinen Spott.
So ganz hatte Mertyn seinen Groll dem Schwager gegenüber noch nicht überwunden. Denn schließlich war es nicht wenig Geld gewesen, das er in Hermans Versuch, bei Rheinbach Seidenraupen zu züchten, gesteckt hatte. Dass dieser nach seinem tragischen Scheitern ohne ein Wort des Abschiedes oder einer angemessenen Entschuldigung Köln verlassen und nach Lucca gegangen war, um sich vor der Verantwortung zu drücken, hatte er ihm lange verübelt.
»Und, wie steht es mit den Seidenraupen?« Mertyn konnte sich nicht verkneifen, danach zu fragen, während Lisbeth sich neben Herman auf der Bank niederließ.
»Gut, dass du es erwähnst«, antwortete Herman mit einem breiten Lächeln, band ein schweres Ledersäcklein vom Gürtel und reichte es Mertyn über den Tisch hinweg. »Sie fühlen sich in Lucca einfach wohler als hier!«
Mertyn nickte. Wortlos, und ohne das Geld nachzuzählen, knotete er den Beutel an seinen eigenen Gürtel. Dann lächelte er Herman offen an. Für ihn war die Angelegenheit damit aus der Welt geschafft.
»Wieso bist du zurück?«, wollte Lisbeth von Herman wissen, während sie sich einen Becher Wein einschenkte.
Hermans Miene spannte sich an, und er zögerte einen Moment. Dann breitete er theatralisch die Arme aus und kniff die Augen zu einem schalkhaften Lächeln zusammen. »Ich hatte Sehnsucht nach euch allen«, sagte er gedehnt. »Nein, im Ernst: Ich dachte mir, in Köln ist genug Platz für einen weiteren Seidenhändler.«
»Das heißt also, du bleibst hier?«, hakte Lisbeth nach. Ihr Blick streifte Alberto. Täuschte sie sich, oder überzog eine feine Röte das Gesicht des Italieners?
»Ja. Und ich denke, es ist kein Schaden, wenn jemand sich um die Geschäfte kümmert, zumal jetzt, da Mutter auf Reisen ist.«
»Du weißt es schon? Also warst du bereits in der Wolkenburg?«
Herman nickte. »Ja, Stephan sagte es mir.« Er schüttelte den Kopf, als er an seine kurze Begegnung mit Mertyns Stiefbruder dachte. Der junge Mann hatte auf ihn sehr angespannt gewirkt, und einen Moment lang war es Herman so vorgekommen, als sei die überschwengliche Herzlichkeit, mit welcher der Jüngere ihn begrüßt hatte, nicht ehrlich gewesen. Doch rasch schob er den Gedanken beiseite. Natürlich war der Junge angespannt. Die Verantwortung, die Fygen ihm übertragen hatte, wog sicher nicht leicht auf seinen Schultern. Abermals schüttelte Herman den Kopf, heftiger jetzt. Dass seine Mutter es aber auch fertigbrachte, zu verreisen und das Geschäft in den Händen eines Lehrjungen zurückzulassen – mochte der auch noch so versiert sein!
Spät am Abend beim Zubettgehen, nachdem man Hermans Rückkehr mit einem ausgiebigen Nachtmahl würdig begangen hatte, hallten noch ein paar Fetzen des Gesprächs in Lisbeth nach, und kurz fragte sie sich, ob Herman ihr tatsächlich den wahren Grund genannt hatte,
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