Die Tochter der Seidenweberin
Unfruchtbarkeit zu befreien. Am Grunde des Brunnens, wo es hell und warm war, wie es hieß, hütete die Mutter Gottes die ungeborenen Kinder, spielte mit ihnen und fütterte sie mit Brei. Trank eine Frau in der Vollmondnacht von dem Wasser, so erfuhr die Jungfrau Maria davon, und nach neun Monaten hielt die junge Mutter ihr Kind in den Armen.
Die Vorstellung von den vielen kleinen Kindern im Brunnen ließ Lisbeth die Kehle eng werden. Wenn es doch diesmal gelingen würde, hoffte sie, und ein bitteres Schluchzen ließ ihren Leib erzittern.
Sie fühlte sich so wertlos. Was, wenn nicht die Freuden der Mutterschaft, waren einer Frau Bestimmung und Erfüllung?
Stets gab es ihr einen Stich, wenn sie in die pausbäckigen Gesichter von Agnes’ Kindern blickte. Insbesondere die vierjährige Sophie mit ihrem verschmitzten Lächeln und den dunklen Kringellocken könnte sie ständig an sich drücken und herzen. Wenn sie eine Tochter hätte, würde sie Sophie vielleicht ähneln …
Lisbeth liefen die Tränen über das Gesicht. Wie oft hatte sie schon die zuständigen Schutzheiligen angerufen, den heiligen Gregor, den heiligen Albert. Und am Tag der heiligen Anna vergaß sie nie, der Mutter Marien eine Kerze anzuzünden. Doch all ihre Gebete hatten bislang keine Folgen gezeitigt.
Was hatte sie denn getan? Welche schwere Sünde hatte sie auf sich geladen, die eine solche Strafe Gottes verdient hätte?
Plötzlich spürte Lisbeth eine Bewegung neben sich. Mit leisem Schrei zuckte sie zusammen und sprang auf. Sie hatte sich allein in der schauerlichen Krypta gewähnt.
Neben ihr stand eine Gestalt, gerade einmal einen Schritt entfernt. Ihr Gesicht verbarg sich in den Schatten des Umhangs, den sie sich über das Haupt gezogen hatte. Lisbeth war starr vor Schreck, unfähig, sich zu bewegen oder um Hilfe zu rufen.
Jetzt trat die Gestalt nah zu ihr, streckte die Hand nach ihr aus.
»Scht, Lisbeth, ich bin es«, flüsterte eine sanfte Stimme. Die Gestalt streifte den Umhang vom Kopf, und erst jetzt, als das Licht Clairgins Züge der Düsterheit der Krypta entriss, erkannte Lisbeth ihre Freundin. Aufschluchzend ließ sie den Kopf an deren Brust sinken und weinte bitterlich.
Clairgin legte sachte den Arm um Lisbeths Schultern. Es war für sie ein Leichtes gewesen, den Grund für Lisbeths nächtlichen Besuch in Sankt Kunibert zu erraten. »Sei nicht so verzweifelt«, suchte sie die Freundin zu trösten. »Du bekommst sicher noch Kinder. Du bist ja gerade einmal zwanzig. Das ist doch kein Grund für solch einen Kummer.«
»Was verstehst du denn davon? Du hast zwei wundervolle Töchter!«, fuhr Lisbeth auf.
»Da hast du recht. Davon verstehe ich nichts«, sagte Clairgin leise. »Aber vom Kummer verstehe ich eine ganze Menge.«
Lisbeth schwieg betroffen. Von Kummer verstand Clairgin wirklich eine Menge. Denn Clairgin war bereits Witwe. Erst vor Jahresfrist hatte sie Mathias zu Grabe getragen – vielmehr: Sie hätte ihn gerne beerdigt, um ein Grab zu haben, an dem sie ihn hätte betrauern können, doch die Fluten des Rheines hatten ihn behalten.
Mathias war Weinhändler gewesen, und auf einer seiner Reisen den Rhein hinauf war er bei Bingen ertrunken, just, als Clairgin mit ihrer zweiten Tochter in Umständen war. Seither musste die junge Witwe den Widrigkeiten des Lebens allein entgegentreten, denn außer einem unfreundlichen Schwager hatte sie keine Verwandten in Köln.
Lisbeth trocknete ihre Tränen. Die Freundin hatte recht. Sie brauchte ihr gar nicht zu sagen, welches Glück sie hatte. Sie hatte einen Beruf, der ihr Freude bereitete und ein nicht geringes Einkommen verschaffte, ein hübsches Haus in Sankt Alban und einen Mann, den sie liebte. Gut, in letzter Zeit hatte Mertyn wenig Zeit für seine junge Frau erübrigen können. Er arbeitete viel und interessierte sich darüber hinaus für die Belange der Stadt.
Doch nein, sie durfte nicht unzufrieden sein.
»Der heilige Kunibert wird es schon richten. Warte es ab«, tröstete Clairgin. »Und nun komm, wir sollten sehen, dass wir nach Hause kommen.«
Ein letzter Schluchzer entfuhr Lisbeth. Dann nickte sie tapfer und folgte der Freundin die Stiege hinauf. Der heilige Kunibert würde es richten!
Als sie das Haus betrat, saß Mertyn nicht mehr über seinen Büchern. Darin hatte Lisbeth sich geirrt. Aus der Stube drangen aufgeregte Stimmen und herzhaftes Männerlachen. Neugierig öffnete sie die Stubentür, um zu sehen, wer die späten Gäste waren, denn Mertyn hatte
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