Die Tochter der Seidenweberin
längst nicht mehr bei der säumigen Seidmacherin. Prüfend blickte sie zum Himmel. Eben stieg der volle Mond über die Dächer am Alter Markt. Wenn sie sich beeilte, wäre sie zu Hause, bevor es gänzlich finster wurde. Mertyn würde ihr Fehlen ohnehin nicht auffallen, er pflegte bis spät im Kontor über seinen Büchern zu sitzen.
Flüchtig verabschiedete sie sich von Clairgin, zog ihren Umhang über den Schultern zusammen und wandte sich zum Gehen. Doch zur Verwunderung der Freundin schlug sie nicht den Weg nach Sankt Alban ein, wo die Ime Hofe und andere wohlhabende Seidmacher ihre Häuser hatten, sondern wandte sich nach Norden.
Schnell kroch die Dunkelheit aus den Winkeln, und Lisbeth beschleunigte ihren Schritt, denn obschon die Nachtwächter ihre Runden drehten, waren die Straßen zur Nachtzeit nicht immer sicher. Ein ums andere Mal wandte sie forschend den Kopf, doch die Schatten verschluckten die Gestalt, die ihr in einigem Abstand folgte.
Längst hatte Lisbeth den Dom passiert und erreichte Sankt Lyskirchen an der Ecke zur Trankgasse. Sie eilte die Johannisstraße entlang, bis sie endlich den gedrungenen Bau von Sankt Kunibert vor sich sah. Wie ein riesiges schlafendes Tier mutete die Kirche in der Dunkelheit an, und Lisbeth schauderte. Kurz hielt sie inne. Am liebsten wäre sie umgekehrt und unverrichteter Dinge heimgekehrt in die warme Sicherheit ihres Hauses.
Doch dann nahm sie ihren Mut zusammen, holte tief Luft und schalt sich einen Hasenfuß. Wenn sie es heute nicht fertigbrachte, würde ein weiterer Monat vergehen, bis der Mond sich aufs Neue rundete, bis sie es wieder versuchen könnte. Ein langer Monat voller Hoffen, und am Ende würde doch nur wieder schmerzliche Enttäuschung stehen.
Lisbeth straffte die Schultern, dann erklomm sie die wenigen Stufen zum Portal, drückte das Tor auf und trat in das Gotteshaus.
Düsternis umfing sie im Innern der Kirche. Nur hier und dort brannte auf einem Altar ein ewiges Licht. Beherzt nahm Lisbeth ein Wachslicht aus einer Halterung an der Wand. Flackerndes Licht fiel auf die Skulptur des heiligen Quirinus und ließ das Antlitz des Heiligen zu einer Fratze geraten. Lisbeth erschrak, und ohne noch einmal nach rechts oder links zu schauen, strebte sie der schmalen Treppe zu, die zur Krypta hinabführte, die unter dem Chor lag.
Als Lisbeth den ersten Fuß auf die Stiege gesetzt hatte, vermeinte sie Schritte hinter sich zu hören. Sie spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken kroch und eine feine Gänsehaut zurückließ. Abermals hielt sie inne. Warum war sie auch allein hergekommen?
Weil die Schwestern nie den Mut aufgebracht hätten, sie zu begleiten, gab sie sich selbst die Antwort. Ihre Mutter war wohl längst jenseits der Alpen, Clairgin hätte sie nicht fragen mögen, denn die hatte wahrlich andere Sorgen, und Mertyn … Lisbeth mochte sich seinen spöttischen Kommentar gar nicht vorstellen. Er hätte dieses Unterfangen zumindest als groben Schwachsinn bezeichnet. Aber Mertyn schien die ganze Sache ohnehin nicht so zu schmerzen wie sie.
Nein, das hier war ihre Angelegenheit, und sie musste sie allein durchstehen. Lisbeth nahm allen Mut zusammen, biss sich fest auf die Lippe, und ohne sich umzuwenden, stieg sie hinab.
Modriger Geruch umfing Lisbeth, und sie hob das Licht. Die Stiege hatte sie in ein saalartiges Gewölbe geführt, dessen Decke von einer einzelnen Säule getragen wurde.
Langsam umrundete Lisbeth den Pfeiler. Da war der Brunnenschacht! Lisbeth sank vor dem Pütz auf die Knie und stellte das Licht neben sich auf dem Lehmboden ab. Vorsichtig wagte sie einen Blick in den tiefen Schacht hinein, doch außer finsterer Schwärze konnte sie nichts darin erkennen.
Ehrfürchtig faltete Lisbeth die Hände und sprach ein stummes Gebet zur Mutter Gottes. Dann griff sie entschlossen nach dem Eimer, der neben dem Brunnen stand, und ließ ihn an seinem langen Strick in den Schacht hinab. Hohl und überlaut tönte das Scheppern, mit dem der Eimer an der gemauerten Brunnenwand anstieß, durch das Gewölbe.
Der Eimer klatschte auf die Wasseroberfläche, und behende zog Lisbeth ihn wieder zu sich herauf. Mit hohler Hand schöpfte sie Wasser und trank davon, wieder und wieder. Schließlich ließ sie den Eimer fahren und schlug die Hände vors Gesicht. »Mutter Gottes«, flehte sie leise, »mach, dass ich endlich schwanger werde!«
Das Wasser des Kunibertspütz, so ging die Legende, vermochte das Wunder zu vollbringen, Frauen von ihrer
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