Die Tochter der Suendenheilerin
die kahlen weißen Wände, die nur durch ein schlichtes Holzkreuz geschmückt waren.
»Und hier sollen die Menschen zum Glauben finden?«, raunte sie Antonia zu. »Wenn ich bedenke, welche Pracht in Djeseru-Sutechs Tempeln herrscht, dann frage ich mich, wie mächtig ein Gott wohl sein mag, der sich mit derartiger Kargheit zufriedengibt.«
»Du verwechselst das Haus Gottes mit dem Haus seiner Dienerinnen. Kein äußerer Prunk soll eine Braut Christi von ihren frommen Werken und der Hingabe an den Herrn ablenken.«
Sachmet schwieg, aber der zweifelnde Ausdruck in ihren Augen blieb.
Kurz darauf betrat die ehrwürdige Mutter Clara den Besucherraum. Obwohl sie das sechzigste Lebensjahr bereits überschritten hatte, war sie noch immer von einer ganz eigenen Kraft erfüllt, und in ihren Bewegungen zeigte sich die Geschmeidigkeit einer Frau, die zeitlebens von harter Arbeit und qualvollen Geburten verschont geblieben war.
»Ehrwürdige Mutter.« Antonia erhob sich und neigte den Kopf.
»Antonia, meine Tochter. Ich freue mich, dass du trotz der schweren Zeiten den Weg nach Sankt Michaelis gefunden hast.«
Dann fiel ihr Blick auf Sachmet, die sich ebenfalls erhoben hatte.
»Ich müsste wohl eher ehrwürdige Großmutter sagen, nicht wahr?«, fragte die junge Ägypterin und hielt dem Blick der Äbtissin stand. »Ich bin Theas Tochter«, fügte sie hinzu.
Ruckartig hob die alte Ordensfrau den Kopf.
»Du bist Theas Tochter?«, hauchte sie. Nie zuvor hatte Antonia die ehrwürdige Mutter ähnlich fassungslos erlebt. Mit zitternden Händen berührte sie Sachmets Hände, betrachtete sie, als stünde die verlorene Tochter höchstselbst vor ihr.
»Mein Name ist Sachmet.«
»Sachmet«, wiederholte die Oberin. »Ein ägyptischer Name, nicht wahr?«
»Ja.«
»Er klingt ungewohnt in meinen Ohren, aber er scheint zu dir zu passen.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Antonia erkannte deutlich, dass der ehrwürdigen Mutter viele Fragen in der Seele brannten.
»Ist dein Vater Christ?«, erkundigte sie sich schließlich.
»Unter Christen ist er ein besserer Christ als die meisten«, erwiderte Sachmet. Antonia atmete auf. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass Sachmets Vater die Fähigkeit besaß, sich überall anzupassen und seinem Gegenüber vorzuspielen, was jener zu sehen verlangte, obwohl er selbst der alten Religion Ägyptens anhing.
Auch die Oberin wirkte erleichtert.
»Ich fürchtete schon, er sei einer dieser Ungläubigen, die den Herrn schmähen«, sagte sie. »Wovon bestreitet er seinen Lebensunterhalt?«
»Er ist ein reicher Grundbesitzer mit zahlreichen Untergebenen.«
»So hat Thea doch noch ihr Glück gefunden. Kommt, meine Kinder! Wir wollen nicht hier verweilen. Ihr seid gewiss hungrig und werdet mit uns im Refektorium speisen. Schwester Ludovika liest heute vor.«
Sachmet warf Antonia einen fragenden Blick zu.
»Die Mahlzeit wird schweigend eingenommen, und eine der Schwestern liest währenddessen einen Abschnitt aus der Bibel vor«, erklärte sie.
»Und wann können wir sprechen?«
Diesmal antwortete Mutter Clara. »Nach dem Mahl begleitet ihr mich in meine Wohnräume. Dort sind wir ungestört.«
33. Kapitel
U nruhig schritt Stephan im Besucherraum von Sankt Andreas auf und ab. Seine Begleiter hatten bereits Unterkunft im Gästetrakt des Klosters erhalten, aber er wollte noch mit seinem Bruder Lukas sprechen. Obwohl – wollte er das überhaupt? Eigentlich w ar es der Wunsch des Grafen, um Näheres über Hugo vom Waldsee herauszufinden.
Sechs Jahre war es her, seit er Lukas zuletzt gesehen hatte. Gemeinsam mit Thomas war er hier gewesen, hatte am selben Ort auf Lukas gewartet, um sich von ihm den Segen für die heilige Mission geben zu lassen. Damals waren alle davon überzeugt gewesen, das Richtige zu tun. Er hatte den Stolz in Lukas’ Stimme wahrgenommen, den Stolz auf seine jüngeren Brüder, die für den Heiland in den Krieg zogen, um die Stätten der Christenheit aus den Händen der Ungläubigen zu befreien.
»Gott ist mit euch«, hatte er gesagt. »Er ist euer Hirte und wird euch führen. Solange ihr in seinem Namen kämpft, wird euch kein Leid widerfahren, denn euer ist das Himmelreich.«
Damals hatte Stephan ihm geglaubt. Doch nun ballte er in Erinnerung an diese Worte vor Wut die Fäuste. Alles war eine Lüge gewesen. Kein gnädiger Gott hatte sie vor der Dummheit oder der Sünde des Hochmuts bewahrt. Im Gegenteil.
Es ist nicht Lukas’ Schuld, ermahnte Stephan sich immer wieder. Es
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