Die Tochter der Suendenheilerin
Vermutung zur Gewissheit wurde. »Du hättest fliehen können, wenn du das Kind nicht gerettet hättest.«
»Vielleicht.« Beinahe liebevoll ließ er den Striegel über Windläufers Fell gleiten. »Vielleicht aber auch nicht. Damals entkamen nur wenige Männer.«
»Du hattest recht – das war ein hoher Preis«, sagte sie leise. »Ein sehr hoher Preis.«
»Wahrscheinlich stellst du es dir schlimmer vor, als es war.« Seine Stimme klang so betont gleichmütig, dass sie seine Worte Lügen strafte. Antonia erinnerte sich an seine bissige Antwort auf Sachmets harmlose Bemerkung, Hunde seien wie Sklaven. Nun verstand sie es.
»Es war schlimm«, wiederholte sie. »Du leidest noch immer darunter.«
»Nein, damit habe ich längst abgeschlossen.« Er sah sie offen an. Seine Seelenflamme leuchtete hell und rein. Sie wurde unsicher. »Was belastet dich dann?«
Er schloss kurz die Lider. »Thomas’ Tod.«
Auch Antonia senkte den Blick. Ihr fiel kein tröstendes Wort ein.
»Solange Thomas und ich zusammen waren«, fuhr er fort, »gab es immer Hoffnung. Gemeinsam durchlebten wir Triumph und Niederlage. Und wir hatten den festen Willen, irgendwann nach Hause zurückzukehren. Das hielt uns aufrecht. Wir schluckten unseren Stolz hinunter und passten uns an. Und wir hatten auch Glück, denn Wakur, der Aufseher unseres Herrn Rafik ben Tahir, quälte die Sklaven nicht aus Lust an Grausamkeiten. Wer sich unterordnete und seine Arbeit verrichtete, den ließ er in Ruhe. Thomas und ich waren fleißig und zuverlässig, deshalb hatten wir nie ernsthafte Schwierigkeiten. Im Grunde ging es uns gar nicht so schlecht.«
Antonia wartete darauf, dass er weitersprach, aber er putzte sein Pferd mit so kräftigen Streichen, als müsse er unangenehme Erinnerungen fortwischen.
»Wie starb Thomas?«
Stephan zuckte zusammen und erstarrte in der Bewegung. Sofort bereute Antonia ihre Frage.
»In meinen Armen«, flüsterte er. Er wandte sich hastig ab, war aber nicht schnell genug, um die Tränen in seinen Augen zu verbergen.
45. Kapitel
H ast du ihn gefunden?«, donnerte Ulf Meinolf an.
»Nein, Vater.«
Eberhard schmunzelte stumm vor sich hin. Zwar blieb das Verschwinden des Birkenfelders nach wie vor ein Rätsel, aber er freute sich diebisch, dass Meinolf dafür zur Rechenschaft gezogen wurde. Endlich verblich der Glorienschein, mit dem sein Vater den Bastard immer umgeben hatte.
»Dann sieh zu, dass du ihn endlich findest! Bis Sonntag muss ich dem Pfaffen etwas vorweisen.«
»Warum sagst du ihm nicht die Wahrheit?«, schlug Eberhard vor.
»Dummkopf! Er und das Gesinde würden sich ausschütten vor Lachen über unsere Torheit. Nein, das können wir uns nicht erlauben.«
Eberhard seufzte. »Spätestens am Sonntag erfahren es ohnehin alle. Oder wie willst du den Pater daran hindern, Rudolf im Kerker die Beichte abzunehmen?«
»Das ist meine geringste Sorge, Bruderherz.« Meinolf lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wir teilen dem Pater einfach mit, dass der verstockte Rudolf keinen Pfaffen sehen will.«
»Und du glaubst, damit lässt der sich abspeisen?«
»Was soll er schon dagegen unternehmen?« Meinolf hielt Eberhards Blick mit dem üblichen Hochmut stand.
»Meinolf hat recht«, beschied Ulf. »Wir sind dem Pfaffen keine Rechenschaft schuldig. Auf meiner Burg entscheide ich, was geschieht. Niemand sonst.«
Eberhards Hände ballten sich zu Fäusten. Warum musste sein Vater Meinolf jedes Mal zustimmen?
»Natürlich bleibt die Frage, wo Rudolf von Birkenfeld abgeblieben ist«, fuhr Meinolf fort. »Wo könnte er also stecken?«
»Woher soll ich das wissen?«, brummte Eberhard missmutig.
»Dir fehlt einfach die Vorstellungskraft, Bruderherz. Falls ihm die Flucht tatsächlich gelungen ist, weilt er vermutlich längst wieder auf Burg Birkenfeld.«
»Und lässt seine Mutter und Schwester im Ungewissen?«
»Ahnen sie wirklich nichts?« Meinolf lehnte sich vor und musterte Eberhard eindringlich. »Mir kam die Gräfin allzu demütig vor, als sie sich für Rudolfs Verhalten entschuldigte. Gewiss kennt Gräfin Helena den Aufenthaltsort ihres Sohns ganz genau. Wenn wir sie nicht länger mit Samthandschuhen anfassen, plaudert sie vielleicht ihr Wissen aus.«
»Was soll das heißen?« Eberhard starrte seinen Bruder an. »Es gibt Regeln im Umgang mit Geiseln. Vergiss das nicht!«
»Sicher, Bruderherz. Aber ich möchte mich nur eine Weile mit ihr unterhalten. Welch bemerkenswerte Herausforderung, die empfindsamsten Stellen dieses
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