Die Tochter der Suendenheilerin
Dann warf er einen Blick auf das Fenster unter sich. Es war dunkel, vermutlich ein leerer Raum. Möglicherweise unverschlossen. Ein idealer Ausgangspunkt für seine Erkundungsgänge.
Er stützte sich mit den Füßen an der Mauer ab, während er sich langsam an dem Seil hinunterließ, den Blick auf die Mauer vor sich gerichtet. Endlich hatte er das Sims des nächsten Fensters erreicht. Erst jetzt erkannte er, dass ein hölzerner Laden die Fensteröffnung verschloss. Vorsichtig stieß er dagegen. Nichts rührte sich. Der Fensterladen war von innen verriegelt. Mit der linken Hand angelte Rudolf sein kleines Messer aus dem Stiefel. Die Regensteiner waren dumm. Sie hatten geglaubt, ihn zu übertölpeln, und hatten versäumt, ihn nach versteckten Waffen zu durchsuchen.
Behutsam schob er die Messerklinge durch die Ritze des Ladens, fasste den Riegel, schob ihn hoch und öffnete das Fenster. Zu seiner großen Überraschung brannte ein Licht in dem Raum. Er überlegte kurz, ob er sich wieder zurückziehen sollte, doch es war zu spät.
»Wer seid Ihr?«, rief eine wütende Frauenstimme. »Und was wollt Ihr hier?«
Rudolf schluckte. Eine blonde Jungfer mit zornblitzenden Augen stürmte ihm so heftig entgegen, dass er befürchtete, gleich rückwärts vom Sims zu stürzen.
»Ähm …«, er räusperte sich. »Guten Abend.«
»Guten Abend?«, fuhr sie ihn an. »Ist das alles? Ich verlange eine Erklärung.« Dann erst bemerkte er den Schürhaken in ihrer Hand, den sie drohend erhoben hatte. Unwillkürlich packte Rudolf das Seil fester, um ihr im Notfall ausweichen zu können.
»Ich dachte, dieses Gemach sei unbewohnt.«
»Und dann wagt Ihr es, durchs Fenster zu kommen? Dafür gibt es eine andere Öffnung, mein Herr.« Sie wies auf die Tür.
»Darf ich vielleicht trotzdem hineinkommen, bevor ich hier draußen das Gleichgewicht verliere?«
»Das wäre ja noch schöner.«
»Dass ich das Gleichgewicht verliere?«
»Dass Ihr meine Kemenate betretet! Ich sollte die Wächter rufen! Mein Vater wird Euch dafür zur Rechenschaft ziehen.«
Rudolf musterte die Jungfer eingehend. Sie war recht hübsch, wenngleich sehr zornig. Die tiefe Falte auf ihrer Stirn erinnerte ihn an Eberhard. War sie Eberhards Tochter Sibylla? Er war ihr nie begegnet.
»Falls Euer Vater Herr Eberhard ist, ruft ruhig die Wachen. Wisst Ihr, meine Familie hatte heute schon genügend Ärger mit ihm, da erschüttert mich nichts mehr.«
»Wer seid Ihr?« Die Zornesfalte auf ihrer Stirn glättete sich ein wenig.
»Gestattet, Rudolf von Birkenfeld. Ich wohne derzeit ein Stockwerk über Euch. Nur leider hat man mir keinen Schlüssel für die Stube hinterlegt, sodass ich nach anderweitigen Wegen suche.«
»Rudolf von Birkenfeld«, wiederholte sie und senkte den Schürhaken. »Ich habe von Euch gehört.«
»Ich hoffe, nur Gutes.« Er versuchte, etwas sicherer auf dem Sims zu knien.
»Ach, verdammt, dann kommt schon herein!«, fuhr sie ihn an. »Nicht, dass ich Euch tatsächlich noch mit zerschmetterten Gliedern vor meinem Fenster sehen muss.«
»Eine weise Entscheidung, wohledles Fräulein«, erwiderte er und folgte ihrer Aufforderung. »Wenngleich mich Eure Ausdrucksweise nicht wenig überrascht.«
»Sie ist angemessen einem Mann gegenüber, der nicht die Tür benutzt.«
»Und wollt Ihr immer noch die Wächter rufen?«
»Derzeit erscheint Ihr mir nicht sonderlich bedrohlich. Oder muss ich mich vor Euch fürchten, Herr Rudolf?«
»Das müsstet Ihr höchstens, wenn Ihr ein Rehbock wärt. Oder ein Hirsch. Als Fasan nicht so sehr, die treffe ich selten.«
Sie kicherte. »Seht Ihr mich etwa als Geflügel?«
»Fräulein Sibylla – Ihr seid es doch, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Fräulein Sibylla, nie gäbe ich einem weiblichen Wesen Anlass, mich zu fürchten, ganz im Gegenteil. Ich halte es strikt mit den ritterlichen Tugenden.«
»Mein Vater sagt, eine Frau müsse sich vor den Birkenfeldern hüten. Ihre Silberzungen seien gefährlicher als jedes Schwert, und der Schlimmste von allen sei Euer Vater Graf Philip.« Sie legte den Schürhaken beiseite.
»Mein Vater ist ein ehrenwerter Mann, der jeder Frau mit Höflichkeit begegnet, doch seine Treue gehört allein seiner Gattin Helena.«
»Das habe ich auch gehört«, gab Sibylla zu.
»Von wem?«
Sie senkte kurz den Blick. »Das tut nichts zur Sache.«
»So? Nun, auch mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, Fräulein Sibylla.«
Sofort sah sie ihm wieder streng in die Augen. »Welche Gerüchte?«
»Ihr seid
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