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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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mit welchen klimatischen und kulturellen Problemen sie sich herumzuschlagen haben. Wir aber sagen: Jeder Baum ist ein Gedächtnis, frei und majestätisch und wunderbar. Sie sind groß und von einer Klugheit, die nur die Geister kennen und die Vögel, die in ihren Zweigen nisten. Stirbt ein Baum, wird eine Erinnerung vernichtet, ein Teil unserer geheimen Geschichte.«
    »Atan, was hast du im Sinn?«
    »Die Brücke«, sagte er. »Erinnerst du dich?«
    Ich nickte, und er sprach weiter.
    »Sie wird neu gebaut. Die Chinesen lassen’s sich was kosten. Sie wollen ja ihre Trucks auf die andere Seite bringen. Wenn es regnet, wird der Bach zum Fluss und der Fluss zum Wasserfall. Sie müssen auch die Straße ausbauen, damit sie während der Schneeschmelze befahrbar bleibt. Und die Schneisen roden, sonst können die Maschinen nicht auf den Berg. Wenn wir ein paar Sprengladungen anbringen, kann das ein Freudenfeuer werden, das ihnen zu denken gibt.«
    Ich machte eine wütende Handbewegung.
    »Atan, wann wirst du es endlich lernen?«
    »Was? Auf meinem Hintern sitzen zu bleiben? Mich zu fangen 259
    ist nicht einfach. Ich habe alles gut im Kopf, weißt du. Die zur Flucht geeigneten engen Gassen, die Seitenwege. Ich bleibe einfach eine Zeitlang versteckt, bis sich die Gemüter beruhigt haben.«
    Diesmal war mir fast übel.
    »Du kannst anscheinend keinem Risiko widerstehen.«
    »Ich habe ein paar Verwandte und Freunde, die das auch nicht können. Ich meine, wir kriegen da fünfzig Leute zusammen, wenn es hart auf hart geht.«
    Ich sah auf meine Hände. Auf dem Handrücken war eine Gänsehaut. »Da friere ich schon im Sommer«, murmelte ich. »Das ist seltsam.«
    Er blinzelte amüsiert.
    »Ich habe ganz vergessen, dass du zart besaitet bist.«
    »Ach, hör auf mit dem Quatsch!«, rief ich ärgerlich. »Ihr könnt die Chinesen nicht aufhalten.«
    »Doch. Bis sie eine neue Brücke gebaut haben.«
    »Sie können eine andere Route wählen.«
    »Die gibt es nicht. Da müssten sie den ganzen Berg sprengen.«
    »Und wenn die Brücke da ist?«
    »Ich habe nicht gesagt, dies sei mein letzter Job. Auch nicht der vorletzte. Wir sind da ziemlich hartnäckig.«
    »Ach…« sagte ich leise.
    »Du hast mich ja gefragt.«
    »Ich stelle fest«, seufzte ich, »dass deine Aussicht, irgendwann an einem Strick zu baumeln, enorm gestiegen ist.«
    »Vielleicht«, erwiderte er gleichmütig, »vielleicht aber auch nicht. Ich kenne die Han-Chinesen gut. Räuber und Störenfriede machen sie nervös. Außerdem haben sie Angst vor Touristen, die den Umweltschütz ernst nehmen. Man kann ihre Filme beschlagnahmen, aber sie nicht daran hindern, nach Hause zu gehen und die Wahrheit zu erzählen. China will keine Schlagzeilen machen, gerade jetzt nicht, wo Tibeter und Chinesen – wie es von offizieller Stelle heißt – ›hart daran arbeiten, gemeinsam ein schönes neues Tibet aufzubauen.‹ Das heißt, dass man Supermärkte und Bordelle aufmacht, die Frontfassaden mit Maos altbekannten Sprüchen beschmiert, die Berghänge kahl macht und die Landschaft grün streicht.«
    Ich holte tief Luft.
    »Wann, A tan?«
    »Sobald die ersten Bagger da sind. Und sobald sich die 260
    Gelegenheit bietet.«
    »Und wenn du unter Verdacht kommst? Ist das so unmöglich?«
    Er lachte leise.
    »Richtig. Unmöglich ist das richtige Wort.«
    Ich schluckte und wandte das Gesicht von ihm ab.
    »Ach, Atan, nimm es mir nicht übel. Ich sehe ja ein, dass du nicht anders kannst.«
    Er streckte sich neben mir aus, nahm mich in die Arme.
    »Du hast schon recht, Tara. Wären die Chinesen da geblieben, wo sie hingehörten, nämlich hinter ihrer berühmten Mauer, hätte ich jetzt ansehnliche Ländereien und genügend Yaks, Pferde und Ziegen.
    Steuern hätte ich nur an das Kloster gezahlt, als Beitrag für die Riten, die Unheil fernhalten – zum Beispiel Epidemien und Hagelschlag.
    Ich hätte geheiratet und wäre alt geworden, wie es sich für einen allseits geachteten Mann gehört, mit Kindern und Enkelkindern und Erinnerungen und dem mir zustehenden Teil an Befriedigung. Aber die Umstände haben mich zum Rebellen gemacht. Mein Leben ist so, wie es ist. Ich kann es nicht ändern und finde mich damit ab.«
    »Und der Tod?«, fragte ich leise. Er antwortete ruhig:
    »Der Tod ist immer da. Ich kenne ihn inzwischen ganz gut. Es kommt sogar vor, dass ich ihn meinen Bruder nenne. Aber man sollte ihm mit Respekt begegnen. Und er nimmt mir nie so viel Kraft, dass ich nicht mehr glauben kann.«
    Und dann

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