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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Gerste ein wenig Zucker und die üblichen Brocken trockenen Käse hinzu. Der Käse, den ich sehr mochte, gab der Gerste eine brennende Schärfe.
    Inzwischen ruhten die Hirten sich aus; Männer und auch einige Frauen klopften eine Prise Schnupftabak zwischen Zeigefinger und Daumen, zogen das Pulver in beide Nasenlöcher hoch, nickten mir lachend zu, während wir uns zu ihnen ans Feuer setzten. Sie trugen dicke Pullover in grellen Farben, Lammfellwesten oder billige Nylonparkas. Eine alte Frau bot mir eine Prise Schnupftabak an, die ich lächelnd ablehnte, was von allen Seiten Gelächter auslöste. Ein Mann reichte mir Tee in einem schönen, in Silber eingefassten 265
    Holzbecher. Das schwarze Haar wehte über seine Schultern. Er war von brauner Hautfarbe; die Augen, die Nase, der Mund waren alle ein wenig schräg; trotzdem sah er gut aus. Er war nicht mehr jung, aber drahtig und muskulös. Seine Tschuba aus grobem Leinen mit der Ambak, der aus Falten gebildeten Brusttasche, war durch einen Gürtel gezogen. Dazu trug er einen Parka und geflickte Hosen, die in pelzgefütterten Stiefeln steckten. Sein Gesichtsausdruck war eher sanft, sein Lächeln verhalten, doch sein Blick unter dem hervorstehenden Jochbein ebenso schillernd wie Atans Blick. Ein Blick, der alles wahrnahm, dem nichts entging. Ich konnte ihn fühlen, selbst wenn ich ihm den Rücken zukehrte…
    »Das ist mein Cousin Chokra«, sagte Atan zu mir. »Sein Vater war ein Cousin meiner Großmutter. Wir sind alle irgendwie verwandt, ziemlich kompliziert, wie du weißt. Chokra und ich stehen uns recht nahe«, setzte er mit Nachdruck hinzu. Das Clandenken schöpfte seinen Ursprung aus den Kulten der Berge, der Fruchtbarkeit und der Ahnen. Die Großfamilie forderte Verpflichtungen, die unliebsam sein konnten, schenkte aber auch Geborgenheit. Vielleicht war es ein schönes Gefühl, sich auf den Nächsten verlassen zu können, statt abgesondert zu sein, nur auf sich selbst angewiesen. Vielleicht war es eine Welt, die in ihren Grundfesten gut war. Ja, sie war hart und entbehrungsreich, aber ich konnte sie sehen, fühlen, riechen und hören, sie war leserlich für mich. Ich trank den warmen, zähflüssigen Tee, der merkwürdigerweise nach Fleischbrühe schmeckte. In dieser reinen, von Geistern bevölkerten Luft stiegen Gedanken an früher empor, kindliche Schwärmereien, unbekannte Gewässer der Erinnerung.
    Meine Vergangenheit trat hervor. Ich erlebte sie wie einen Tagtraum.
    Ein Mann schnitt einige Stücke aus den Gedärmen, die übriggeblieben waren, und warf sie im hohen Bogen den Raben hin, die sich sofort wie eine schwarz flatternde Wolke niederließen. Das kleine Mädchen war auch wieder da. Sie hatte sich dicht neben Chokra gekauert, wobei sie mich neugierig musterte.
    »Sie ist meine Tochter«, sagte Chokra, mit Stolz in der Stimme.
    Ich lächelte der Kleinen zu.
    »Wie heißt du?«
    Sie antwortete unbefangen, mit klarer Stimme.
    »Longsela.«
    »Du kannst gut mit der Schleuder umgehen.«
    »Ich werfe den Stein immer so, dass ich die Raben nicht treffe«, 266
    erwiderte sie. »Aber es gibt Jungen, die genau auf sie zielen.«
    »Das ist aber nicht nett.«
    Sie blickte mich an und nickte ernst.
    »Nein. Die armen Vögel wolle ja auch essen. Bloß müssen sie lernen, zu warten.«
    Irgendwie erinnerte sie mich an Kunsang, als sie im gleichen Alter war. Doch Longselas klaren Augen fehlte das Düstere, ihr Blick war sanft und verschmitzt. Sie hatte ein schön geformtes Köpfchen und war zierlich von Gestalt, mit kleinen Händen und Füßen. Bei jeder Bewegung schaukelte oder teilte sich eine Fülle dünn geflochtener Zöpfe um ihre zimtbraunen Wangen.
    »Ihre Mutter hieß Dolkar«, sagte Atan halblaut zu mir. »Longsela war ihr erstes Kind. Ein paar Wochen nach der Geburt erkrankte Dolkar an schweren Leibschmerzen, weigerte sich jedoch, ein Krankenhaus aufzusuchen. Unsere eigene Heilkunst ist für die meisten Krankheiten immer noch die beste. Aber viele tibetische Ärzte hatten ihre Heimat verlassen; bis Chokra einen Arzt fand, der mit ihm ins Lager ritt, vergingen Tage. Der Arzt stellte eine Blinddarmentzündung fest und versuchte vergeblich, Dolkar zu retten; es war zu spät. Er konnte lediglich dafür sorgen, dass sie ohne Schmerzen starb.«
    »Und die Kleine?«
    »Sie ist ein heiteres Kind. Für uns sind Kinder das Kostbarste, was wir haben. Wer ein Kind aufzieht, kann nicht immer gleichzeitig tun, was er möchte, aber Chokra macht seine Sache gut. Und alle

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