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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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ernstes Profil und eine angenehme Stimme, ohne die Rauheit seiner Jahre. Kunsang deutete ein Lächeln an.
    ›Norbu hat immer Angst um mich. Das sollte er nicht haben.‹
    ›Ich glaube, er hat gute Gründe dafür ‹, brummte ich. ›Mein Name ist Atan‹, setzte ich hinzu. ›Ich habe Kunsang schon als Baby gekannt.‹
    Norbu war viel zu sehr von seinen Empfindungen erfüllt, um richtig zuzuhören.
    ›Warum hat sie das getan? Wenn ich dabei gewesen wäre… ‹
    Er schob sich näher an Kunsang heran und berührte ihren Arm.
    Sie tauschten ein Lächeln. Es lag viel Zärtlichkeit in Kunsangs Blick, 253
    aber eine geringschätzige.
    Einige Schauspieler massierten sich gegenseitig, um Muskeln und Körper zu entspannen. Sie lagen dort, wo es ihnen passte, um auszuruhen. Sie waren in einem alten Lastwagen unterwegs, mit Papierblumen, Flitter, Tüchern und Stoffresten geschmückt. Sie wuschen ihre Wäsche im Fluss, nähten ihre Kostüme selbst, formten ihre Masken aus Pappmache, Holz, Stoff und Leder, stellten sie sachkundig und mit tiefer Überzeugung her. Sie stellten die Gesichter von Tieren, von menschlichen Wesen und Geistern dar.
    Jetzt winkte man Kunsang, es war ihr Auftritt. Der Platz war mit Zuschauern gefüllt, die sich erregt flüsternd um die kleine Holzbühne drängten. Norbu zog Kunsang an den Rand der Bühne; sie kletterte mühelos hinauf und tanzte zum Klang der Zimbeln. Die Zuschauer wissen, was man ihnen schuldig ist, und schimpfen, wenn sie nicht zufrieden sind. Ich dachte, jedes Kind mit ein wenig Grips im Kopf wird merken, dass sie jetzt nicht bei der Sache sein kann.
    Doch nein, die Art, wie sie tanzte, straff und geschmeidig, zeugte von absoluter Körperbeherrschung und Konzentration. Es gelang ihr, bei jeder einzelnen Bewegung zugleich Anmut und eine fast tollpatschige Komik zu zeigen, und diese Mischung übte auf die Zuschauer einen unwiderstehlichen Reiz aus. Man geizte nicht mit Gelächter und Beifall. Selbst Norbu schien sich zu entspannen, lachte gelöst. Im Gedränge trat plötzlich eine alte Frau auf mich zu.
    ›Ich heiße Yuthok, aber du kannst mich Amla nennen. Ich bin hier die Mutter. Verstehst du?‹
    ›Ich verstehe.‹
    Ihre Stimme war merkwürdig singend, heiser und weich. Es gibt Menschen von seltsam faszinierender Ausstrahlung, abweisend und gleichzeitig magisch anziehend. Yuthok gehörte zu ihnen. Sie hatte schräggestellte Augenbrauen, an ihren Ohrläppchen baumelten alte Korallensteine. Ihre Haut war voller Runzeln, und jede Runzel erzählte eine Geschichte. Sie war eine Frau mit scharfem Verstand; der zwinkernde Blick, mit dem sie mich musterte, war fast hellseherisch klar.
    ›Ich bin doch froh‹, sagte sie, ›auch wenn es nicht so schlimm geworden ist und weiter nichts schadet. Kunsang spielt einen Engel oder eine Dämonin. Und manchmal verschwindet sie als Mensch in beiden. Aber das muss so sein.‹
    Ganz plötzlich wurde diese Frau mir sehr vertraut. Ich sagte:
    ›Ich war es, die Kunsang damals aus Tibet geschafft hat. Sie wäre 254
    sonst als Chinesin erzogen worden.‹
    Sie nickte.
    Später sollte ich mehr über sie erfahren. Yuthok entstammt einer hohen Beamtenfamilie aus Lhasa, große Ländereien, ein beachtliches Vermögen. Sie war die jüngste Tochter, und sehr verwöhnt: westliche Einflüsse, eine englische Privatlehrerin, später Studienzeit in Darjeeling. Ein paar Monate reichten Yuthok, um zu wissen, dass dort ihr Platz nicht war. Sie redete zuviel, stellte zu viele kritische Fragen. Mit zwanzig Jahren ging sie nach London, wo sie bei ihrer ehemaligen Lehrerin wohnte und nach einer Ausbildung in Tanz und Pantomime auf etlichen Bühnen stand. Als die Volksarmee in Tibet einfiel, trieb die Sorge um ihre Familie sie zurück nach Lhasa. Sie erlebte Chaos und Blutvergießen. Ihr Haus wurde geplündert und beschlagnahmt, um als Gefängnis zu dienen. Man pferchte in den Räumen einige Hundert Menschen zusammen, Frauen und alte Leute zumeist. Zum Hinsitzen war kein Platz, die Gefangenen mussten die ganze Zeit stehen. Sie hatten keine Luft zum Atmen und starben zu Dutzenden. Yuthoks Eltern wurden dem Vorgang der Thamzig – der so genannten ›Massendiskussion‹ – unterzogen. Sie wurden gefesselt in einen öffentlichen Versammlungsraum gebracht, als Großgrundbesitzer und Ausbeuter beschuldigt, geschlagen und zum Tode verurteilt. Eine Kugel durch die Schädeldecke, und aus.
    Yuthok wurde von oben bis unten von ihrem Blut bespritzt. Ihr älterer Bruder war Abt im

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