Die Tochter der Tibeterin
Sie braucht Konflikte, verstehst du? Wenn es einmal keinen gibt, sucht sie von sich aus Streit. Aber sie muss noch manches lernen, was es bedeutet, Tibeterin zu sein. Sie kann nicht immer hoffen, von sämtlichen Han-Chinesen missverstanden zu werden.‹
Ich war beunruhigt und merkte, dass sie es auch war; in unseren Augen mochte ein gemeinsamer Ausdruck sein, ein gleiches Unbehagen. Das bedrückte mich zusätzlich. Sie fuhr fort:
›Es hat keinen Sinn, mit ihr darüber zu sprechen. Das bringt nicht einmal Norbu fertig. Ich glaube, sie sollte bedenken, dass sie irgendwann mal… Schwierigkeiten haben könnte.‹
Yuthok hatte genug erlebt, um solche Dinge vorherzusehen. Ihr warnender Blick war schwer zu ertragen. Ich sagte:
› Vielleicht geht es ihr lediglich um besondere Gedanken. Man kann sie wie flache Steine über den Fluss werfen; einige springen hoch und erreichen das andere Ufer.‹
Sie rieb sich die knochigen Schultern. Mir war, als ob sie fror.
›Aber ja doch. Sie machen weniger Lärm als Gewehrschüsse.
Und sie lassen sich auch besser verstecken als Waffen.‹«
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25. Kapitel
»E s war ein seltsames Gespräch, das wir führten«, sagte Atan zu mir. »Noch heute erinnere ich mich nahezu an jedes Wort.«
»Du hast ein gutes Gedächtnis.«
»Die meisten Menschen denken ungerne an Zeiten des Leidens zurück. Es gibt Dinge, die ich lieber vergessen würde. Yuthok nicht.
Sie braucht die Erinnerung an den Schmerz, als Ansporn für das Leben.«
Der Geruch der Yakherde erhob sich wie eine heiße Säure über die Weide. Am Hang ging der Laubwald in Nadelwald über. Es war ein wunderschönes Hochtal, ein Tal wie aus einem Märchenland.
Der Waldboden war kühl zwischen den dicht stehenden Kiefernstämmen; den Boden bedeckten federndes Heidekraut und Moosdecken, die im Sonnenlicht aufleuchteten. Der Ginster blühte.
Das Knirschen unserer Schritte im Wald war nicht das einzige Geräusch: Die Bäume über uns erbebten förmlich im Gesang der Vögel. Oberhalb der Baumkronen flogen zwei Adler mit starken Schlägen; sie fanden eine Säule aufsteigender Luft und begannen, in immer breiteren Kreisen aufwärts zu segeln. Mein Geist schwang sich mit ihnen in endlose Fernen, bewegte sich mit ihnen im Blau, wenn sie im abwechselnden Rhythmus ihre großen, trägen Schwingen herumwarfen und ihre dunklen Leiber auf der Luft treiben ließen. Und hinter alldem die Berge, geisterhafte Eismassen, die aus dem grünen Hügel wie aus einem fernen Ozean emporwuchsen. Ich atmete tief die würzige Luft ein, berauscht vom Duft der vielen Kräuter und Beeren.
»Ich fühlte mich gut hier«, sagte ich.
Er nickte gedankenverloren.
»Nicht wahr? Es ist ein guter Ort. Vor allem jetzt, wenn das Gras hoch steht und die Beeren reifen. Und er wird noch in Jahrhunderten da sein, sollte der Wald nicht gefällt werden.«
Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
»Das kann doch nicht wahr sein!«
»Doch. Das Holzvorkommen sei hochklassig, meinen die Chinesen. Das bedeutet, dass sie Profit damit machen können. Sie würden ihren Bauch mit Geldscheinen vollstopfen, wenn ich nicht eine andere Sache wüsste, wofür man sie besser verwenden kann.
Und wenn sie nichts anderes zu verkaufen haben, verkaufen sie 258
tibetische Mädchen an Bordelle im Mutterland.«
In mir flammte ein Schmerz auf, so stechend und real, als ob jemand mein Herz mit der bloßen Hand presste. Ich öffnete die Lippen, brachte aber kein einziges Wort heraus. Ich betrachtete die reine Landschaft, großartig und lebendig wie die Welt der Götter.
Und gleichzeitig erinnerte ich mich an die heulenden Kreissägen, die beladenen Tieflader, die Holzfällermaschinen, die ihr Frontschild durch Äste und Zweige schoben, an die klaffenden Wunden der Baumstümpfe, die ihre stumme Klage in den Himmel schrien. Es gab nichts, absolut nichts, was ich hätte sagen können. Ich rieb mir die Schläfen. Ich hatte eigentlich nie das Gefühl gehabt, hilflos zu sein.
Jetzt plötzlich fühlte ich es. Mir kamen die Tränen wie ein verletztes Kind. So schleppten sich die Sekunden dahin, bis Atan nach einer Weile wieder zu sprechen begann.
»Lange genug fühlten wir schon, dass etwas kommt. Die Chinesen spionierten hier herum. Sie haben das Gelände ein paarmal mit Hubschraubern überflogen, haben Fotoaufnahmen von dem Waldstück gemacht und die Yaks in Panik versetzt. Zwei Kühe hatten eine Fehlgeburt. Wir sind die Rohstofflieferanten für die wirtschaftliche Entwicklung Chinas, egal
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