Die Tochter der Tibeterin
Kloster Sera; er wurde einer Elektroschockbehandlung unterzogen, die ihn zum Wrack machte.
Sein Herz hielt die Belastung nicht aus, er starb kurze Zeit später.
Eine jüngere Schwester wurde vergewaltigt, bis sie verblutete.
Yuthok selbst verbrachte fünf Monate im berüchtigten Gefängnis Kutsa. Sie war Tag und Nacht angekettet, musste ihr Essen auflecken, wie ein Hund, und ihren eigenen Urin trinken. Danach schickte man sie zu einer Arbeitseinheit in einen Steinbruch. Dort verbrachte sie acht Jahre. Eines Tages, bei den Neujahrsfesten, waren keine Wachen da, die aufpassten, und sie konnte fliehen.
Yuthok hatte so ziemlich alles erlebt, was die menschliche Natur zu bieten hatte. Sie war unterernährt, besaß nichts als die Lumpen, die sie am Körper trug. Sie wollte sich nicht prostituieren, dazu war sie zu stolz. Und ihr Stolz galt etwas, selbst im Elend. Lieber schlug sie sich als Bettlerin durch. Es war die Zeit, da die Rotgardisten bestimmten, was absolut lobenswert und absolut tadelswert war. Um glaubhaft zu sein, kam ihr die Erfahrung auf der Bühne in den Sinn.
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Zum Dank für die Almosen, die ihr die Tibeter spendeten, begann Yuthok, kleine Possen aufzuführen. Die Leute lachten, vergaßen für einige Augenblicke ihr Elend. Yuthok wollte nicht auffallen, blieb nie lange am gleichen Ort. Zufällig traf sie eine Gruppe ehemaliger Wanderschauspieler, die – wie sie selbst – von Almosen lebten. Ihre Kunst war von den Rotgardisten verboten worden. Man hatte ihre Masken und Requisiten verbrannt, ihre Musikinstrumente zerschlagen. Heimlich brachten die Schauspieler Yuthok ihr Handwerk bei.
So vergingen einige Jahre, und mittlerweile fiel die Viererbande in Ungnade; der Terror machte sich weniger intensiv bemerkbar.
Yuthok, die nichts mehr hatte, für das es sich zu leben lohnte, entdeckte eine Aufgabe, die genau der Form und dem Wesen dessen entsprach, was sie suchte. Die alte Kunst musste bleiben, wie sie einmal war. Alte Kulturen sterben, weil sie sterben müssen, meinen die Chinesen. Die Tibeter sollen sich von ihrer Geschichte trennen und nur noch die Worte des Vorsitzenden Mao im Kopf haben.
Yuthok ließ sich nicht beirren und konzentrierte sich auf Dringenderes. Es war schon spät. Sehr spät. Kultur war der Schlüssel, der verrostete Türen öffnete. Den Schlüssel hielt sie fest in der Hand. Die Komödianten starben einer nach dem anderen; damals wurden die Menschen nicht sehr alt. Yuthok sang die Lieder, führte die Tänze auf, wie man es ihr beigebracht hatte. Sie hielt ihre Stimme in Übung und ihren Körper, so gut es ging, geschmeidig. Sie kannte jede Rolle, hatte jeden Schritt, jede Geste im Kopf. Sie bemalte ihr Gesicht mit Ruß, den sie mit Wacholderöl und Tabak mischte. Sie baute schlichte Requisiten, nähte Kostüme aus Lumpen, vermoderten Fellresten und ausrangierten chinesischen Uniformen.
Sie glaubte an die Masken, die sie selber formte, an ihr Geheimnis, an ihre Macht. Die Verantwortung erfüllte sie mit Stolz. Für Bescheidenheit hatte sie wenig übrig. Sie zog die Eitelkeit vor; schöne Worte gefielen ihr. Nun gab sie ihr Wissen an andere weiter
– gelegentlich auf recht drastische Art. Wer es fertig bringt, sich selbst die Zähne auszuschlagen, hat für zimperliche Gefühle wenig übrig.
Inzwischen mimte Kunsang auf der Bühne eine alte Bergfrau, die für einen müden jungen Bauer Reisig sammelte, bevor sie mit ihm um die Wette trank und sich in ihrer Feengestalt zeigte. Kunsang krächzte mit der Stimme der alten Frau, sang mit der melodischen Klangfülle der Dakini. Yuthok beobachtete sie mit schärfster 256
Aufmerksamkeit, dann und wann mit einem zustimmenden oder abwertenden Grunzlaut. Schließlich brummte sie:
›Wer vor Zuschauern auftritt, sollte sieben Stimmen besitzen.
Und jede Stimme hat ihren Preis. Kunsangs Stimme umfasst nahezu fünf Oktaven, aber sie ist noch jung. Ich nehme nicht an, dass ich im Augenblick mehr von ihr erwarten kann.‹
Ich nickte und schwieg. Sie sah mich an, dann kniff sie beide Augen zu.
›Komisch, du stellst keine Fragen. Du tust, als wüsstest du genug.‹
›Ich weiß schon einiges. Und was würde das schon bringen, wenn ich dir Fragen stellte? ‹
Sie hielt sich die Hand über die Augen und verwandelte ihr Gesicht in einen Schatten.
›Ich würde dir antworten, dass ich einen Menschen wie Kunsang zum ersten Mal erlebe. Ich weiß nicht, was sie in sich hat. Es ist alles sehr bruchstückhaft. Es macht ihr Spaß, zu provozieren.
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