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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Kunsang?«
    Ich nickte, wobei ich zu lachen versuchte, weil ich mich verwundbar fühlte und es verbergen wollte. Er legte den Kopf neben den meinen, drückte meine Hand an seine klamme Brust.
    »Das brauchst du nicht.«
    »Wirklich?«
    »Nein«, sagte er gelassen, »sie hat Angst vor dir.«
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26. Kapitel

    A m Tag vor dem Yaji – dem Sommerfest – schlachteten die Hirten einen Yak und teilten ihn unter sich auf. Es war ein gutes, schnelles Töten. Die Hirten wussten, was sie taten, und das Tier brauchte nicht zu leiden. Die Hirten baten seinen Geist um Entschuldigung, ehrten seine sterblichen Überreste mit einer besonderen Lobpreisung und beteten um seine baldige Wiedergeburt.
    Sie beteten für das Leben des Yaks, so wie sie für das Leben eines Menschen gebetet hätten.
    »Das Gebet reinigt uns«, sagte Atan. »Ein Lebewesen wurde getötet. Nun muss jeder irgendetwas Gutes denken, sonst laden wir eine Schuld auf uns.«
    Ich sah zu, wie die Hirten ihre Messer wetzten und den geschlachteten Yak häuteten. Frauen und Männer arbeiteten gemeinsam, mit sparsamen, geschickten Gesten. Sie verteilten die Fleischstücke; jede Familie bekam ihren Anteil. Nur wenig entfernt verscheuchten kleine Mädchen und Jungen eine Anzahl Raben, die mit forderndem Geschrei über dem Gerippe kreisten. Sie benutzten kleine Steine, die sie mit einer Wurfschlinge aus Yakhaar schleuderten. Die Raben zischelten nervös, breiteten ihre großen schwarzen Schwingen aus und stiegen in die Höhe, um zu kreisen.
    Einige blieben sitzen, machten einen kleinen Schütteltanz und warteten. Offenbar nahmen sie die Kinder nicht ernst. Inzwischen arbeiteten die Hirten weiter. Das Herz, große Teile des Gedärms und den violetten Leberklumpen warfen sie in einen besonderen Korb.
    Die Gedärme, erklärte mir Atan, waren voll von halb fermentierten Kräutern und Gräsern und stellten eine wichtige Vitaminquelle dar.
    Eine Frau wischte sich am Gras das Blut von den Händen, nahm den Korb und rief einen Namen. Ein Mädchen, etwa zehn Jahre alt, steckte ihre Schleuder in die Tschuba und kam mit erhitztem Kopf zu ihr. Die Frau reichte ihr den Korb. Das Mädchen nahm ihn; es war keine Abneigung in ihren Gesten, nur tiefehrliche Höflichkeit.
    Sie war klein von Gestalt, der Korb war eigentlich zu schwer für sie, doch sie trug ihn behutsam davon, zu einer alten Frau, die vor dem Eingang einer Jurte wartete. Die Nomaden stellten ein besonderes Trockenfleisch her, zusammengeknetet mit Nierenfett, das sich ein Jahr oder länger hielt. Trockenfleisch wurde vorwiegend auf Reisen geschätzt. Man zermahlte es, würzte es mit Salz und rotem Pfeffer.
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    Mit Tsampa vermischt, hielt es die Menschen den ganzen Tag bei Kräften, ohne dass ein weiteres Nahrungsmittel nötig war.
    »Früher«, erklärte mir Atan, »wurde nicht der kleinste Teil eines Yaks vergeudet, und teilweise ist es auch noch heute so. Aus seinem Fell machen wir Mäntel, aus dem Leder Beutel. Aus der weichen Wolle am Bauch werden Kleider gewoben. Sein Fleisch gibt uns Kraft. Seinen Magen kann man als Suppenkessel benutzen, dazu füllen wir ihn mit rotglühenden Steinen. Seine Hufe werden gekocht und liefern ein besonderes Öl. Aus den Knochen entstehen Messer und Ahlen und Nadeln. Aus den Haaren machen wir Kordeln und Fäden, aus den Sehnen Bogensehnen. Die Hörner werden zu Wasserflaschen, Schnupftabaksdosen und Tintenfässern verarbeitet.
    Früher wurden sie mit Edelsteinen geschmückt, heute meistens mit Muscheln, weil sie billiger sind.«
    Ich nickte lächelnd. Ja, ich erinnerte mich gut.
    »Amla hatte ein solches Tintenfass. Ein kleines Prachtstück, mit schönen Korallen geschmückt. Sie gab es meinem Bruder Tenzin, als er ins Kloster ging.«
    Inzwischen fachten die Männer ein Feuer an, bliesen mit einem Blasebalg aus Ziegenfell Luft unter die Wacholderzweige. In einem großen, rußigen Kessel kochte Wasser. Eine Frau mit einem geflochtenen Kopfband brach einen Teeziegel, warf die dunkelgetrockneten Blätter in den schwarzen Topf. Geschickt schlug sie Butter in den Tee, indem sie zwei Essstäbchen zwischen den Handflächen rieb, bevor sie eine Handvoll Salz hineinwarf. Nach einer Weile band sie die Ärmel ihrer Tschuba los, benutzte sie als Topflappen, packte, scheinbar mühelos, den heißen Topf und goss den Inhalt in eine Thermoskanne, die sie kräftig schwenkte.
    Frauen und Männer teilten sich fröhlich die Arbeit. Jeder knetete Tsampa-Kügelchen für die anderen, fügte der gerösteten

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