Die Tochter der Tibeterin
zu starren, in Erwartung der Botschaft irgendeiner Himmelsmacht – konnten wir den Trost nicht im eigenen Herzen suchen? Doch wer zeigte uns den Weg? Wir mussten ihn selbst erkunden, aus eigenem Willen und aus eigener Kraft.
271
27. Kapitel
Z um Sommerfest machten sich jährlich Tausende von Nomaden auf die Reise. Sie kamen von weither, hielten eine Verbindung aufrecht, die so alt war wie ihr Volk, dessen Ursprung keiner mehr kannte. Und ein altes Volk hat mehr Stolz als ein junges. Viele dieser Menschen waren heute Halbnomaden; oder sesshaft; sie litten darunter, weil ihnen die Wanderschaft im Blut lag. Früher hielten die Sippen eng zusammen; das war ihre Stärke. Heute waren es nur noch die Feste, die sie zusammenbrachte, und das luftige Sommerzelt, das ihnen für die Dauer der Reiterspiele als Behausung diente, das an die Vergangenheit erinnerte. Bald wimmelte die Ebene östlich von Lithang von Menschen, und es kamen immer mehr dazu. Abends verwandelten die Feuerstellen das Gelände in eine Stadt der Geister und Schemen. Tausend Gebetsfahnen flatterten, Wacholderzweige wurden verbrannt, die den Regen fernhalten und gutes Wetter für die Reiterspiele sichern sollten. Die Yaks trugen alles, was für das tägliche Leben nötig war. Ihre Hörner waren mit Wollquasten und kleinen Spiegeln geschmückt, die im Sonnenlicht funkelten.
Wo ein Fest stattfand, durfte auch der Markt nicht fehlen. Die Nomaden befreiten die Butterblöcke von den aus Yakdärmen gefertigten Häuten und boten auf den Klingen langer, verzierter Messer den Käufern dünne Scheibchen zum Probieren an. Sie verkauften Salz und Borax und steinharte Käsewürfel, an Fäden aufgereiht, damit man sie als Reisender um den Hals tragen konnte.
Von dem Erlös erstanden sie das frisch geerntete Getreide, das auf ihren Hochweiden nicht gedieht. Trotz der Propaganda stand die Mechanisierung der tibetischen Landwirtschaft wohl nur auf dem Papier. Ich hatte sie oft gesehen, die Frauen in ihren langen Röcken, die Gesichter glänzend vor Schweiß. Sie sangen in abwechselndem Rhythmus, während sie Weizen und Gerste droschen, die Luft mit dem gelben Staub der frischen Spreu füllten. Sie standen in einem großen Kreis, schwangen abwechselnd die Dreschflegel oder warfen einander ganze Wolken von Stroh zu. Jetzt war die Ernte eingebracht, es war Zeit, sich an dem Fest zu erfreuen, und ich betrachtete entzückt das bunte Gewoge. Die Frauen trugen ihre Babys im Ambak oder in Körben, die mit Schaffell gefüttert waren, wobei bisweilen zwei Babys mit roten oder grünen Ohrenmützen an den Seiten eines Yaks hingen, was ganz bezaubernd aussah.
272
Ein gewundener Pfad, von weißen Steinen gesäumt, führte zu einem großen Zelt, vor dem Sherab Rimpoche, festlich in Gelb gekleidet, die Ankömmlinge segnete. Trotz seiner verkrüppelten Gliedmaßen und dem von erlittener Not gezeichneten Gesicht war sein Lächeln beschwingt, und seine Bewegungen waren von großer Eleganz. Hoch über den Zeltbahnen flatterten Gebetsfahnen in den Himmelsfarben, weiß und blau, und noch höher, trunken im Morgenlicht, tanzten Dohlen. Eine Kraft lag in der Luft, heiter und beschwingt, die sich auf die Menschen auswirkte. Vor dem Zelt herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Die Reiter führten ihre Pferde am Zügel, damit auch die Tiere gesegnet wurden. Frauen und Männer ließen Gebetsperlen durch ihre Finger gleiten, drehten kupferne Gebetszylinder, murmelten vielsilbige Mantras: ein auf und ab wogender, vielstimmiger Chor. Alte Menschen krochen den Pfad empor, die Handflächen mit Holzplatten, die Knie mit Fetzen alter Autoreifen geschützt. Manche bewegten sich unter großen Schmerzen auf Krücken; man machte ihnen ehrfürchtig Platz, aber half ihnen nicht. Das hätten sie nicht geduldet. Die Sonne brannte auf ihre verzückten, schweiß- und staubverkrusteten Gesichter.
Mönche und Nonnen standen in Gruppen; ihre Gewänder leuchteten rubinrot, ihre kahlrasierten Köpfe zeigten ihre schöne Knochenform.
Als ich sie anstarrte, kicherte die jungen Novizen verlegen, wandten sich ab oder schlugen die Hände vors Gesicht. Ich wunderte mich, doch Atan sagte:
»Du musst nicht glauben, dass sie schüchtern sind. Aber sie sehen, dass du aus dem Ausland kommst, und haben Angst. Fotos, die Touristen von ihnen machen, können leicht den Chinesen in die Hände fallen.«
»Ich verstehe.«
Sherab Rimpoche hatte uns erblickt; ein belustigter Funke tanzte in seinen Augen. Wir verneigten uns mit
Weitere Kostenlose Bücher