Die Tochter der Tibeterin
aber die Reiterspiele sind für uns Männer da. Wir können nicht prächtig genug daherkommen. Der Schmuck zeigt, ob wir reich sind oder nicht. Wir glauben, je mehr Reichtum und Glück jemand hat, desto besser müssen seine Taten in einem früheren Leben gewesen sein. Außerdem lieben wir es zu prahlen.«
Ich lachte.
»Ich mag es, wenn Männer prahlen – aber nur, wenn sie etwas zu prahlen haben.«
»Auf jeden Fall. Sonst bringt es keine Ehre.«
»Sie prahlen gut.«
»Das Sommerfest ist ein Heiratsmarkt. Die Frauen treffen ihre Wahl. Sie sind für den Wert des Geldes weit mehr als Männer empfänglich: Das Angebot muss stimmen. Wir wollen doch zeigen, wie mutig und reich und unvergleichlich wir sind. Denn wir Khampas teilen mit manch anderem Volk den Glauben, dass wir das Salz dieser Erde sind.«
»Und du?«
»Für mich sind diese Zeiten vorbei. Aber die Riesenaufregung, die ich damals bei den Mädchen auslöste, ist nicht vergessen.
Deswegen mache ich jetzt nicht mehr mit. Sie sollen eine gute Erinnerung an mich bewahren.«
»Ist das deine Art zu prahlen?«
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»Weißt du eine bessere für mich?«
Wir tauschten einen langen Blick, und ich lachte nicht mehr. In enger Umarmung standen wir in der Menge. Ich presste meinen Körper an den seinen, spürte das heiße Pulsieren des Verlangens in meinem Unterleib und merkte, wie auch er mich begehrte. Das Ganze machte mich benommen. Es kam mir merkwürdig vor, dass ich mit diesen prachtvoll gekleideten, schillernden Wesen die gleiche Herkunft teilte. Wir waren Kinder derselben Heimaterde, derselben versunkenen Welt. Doch ihre kraftvolle dunkle Schönheit, ihren Stolz hatten sie durch eigenen Willen neu erschaffen. Nein, das Fest war ihre eigene Feier und keine Touristenattraktion. Dass sie für Bescheidenheit wenig übrig hatten, war gut und richtig. Sie waren lange unterdrückt worden; an Ungerechtigkeiten hatten sie sich jedoch nie gewöhnt. Sie waren zu eigensinnig.
»Jedesmal, wenn sich die Stämme hier versammeln, kommt das Militär und verhaftet einige von uns«, sagte Atan.
»Einfach so? Ohne Grund?«
»Sie finden immer einen Grund. Die Lastwagen fahren durch die Dörfer, damit die Gefangenen von allen gesehen werden. Junge Männer, auch manchmal Frauen, mit rasierten Köpfen, Handschellen und Nummernschildern um den Hals. Sie wollen uns einschüchtern.
Aber sie können keine Schlappschwänze aus uns machen. Sie bringen es einfach nicht fertig.«
Nein. Die Khampas würden niemals Chinesen sein, sie waren freie Menschen, jeden Tag in ihrem Leben. Man hatte ihre Städte verbrannt, ihre Heiligtümer geplündert, die alten, geheimen Kulturgegenstände, seit Jahrhunderten aufbewahrt, beschlagnahmt oder zerstört, das Wissen von Generationen vernichtet. Man hätte meinen können, sie hätten ihre ganze Kraft gegen diese Angriffe verbraucht, wie das letzte Feuer eines sterbenden Vulkans; derselbe urtümliche Trotz, das gleiche Aufbegehren wie in all den Jahrhunderten zuvor; aber eben doch ein letzter Aufbruch.
Doch den Khampas konnte man nicht alles nehmen, auch wenn man ihnen scheinbar vieles geraubt hatte; sie hatten noch immer ihren Stolz und ließen ihn nicht verkommen, sondern vererbten ihn bei Lebzeiten. Tausend Demütigungen wurden zerrieben wie Korn zwischen den Mühlsteinen dieses Stolzes.
Ich stand wie gebannt unter der Menge der Zuschauer, während tosend und donnernd die Reiter über die Steppe rasten. Das Stampfen unzähliger Hufe schlug Funken aus dem Boden, 278
schleuderte Erdbrocken auf. Die Khampas ritten, wie ich es noch nie gesehen hatte. Leidenschaftlich, wie berauscht, trieben sie ihre Tiere zu halsbrecherischer Geschwindigkeit an. Junge Männer und vereinzelt auch Frauen hielten sich mit dem Gleichgewicht von Akrobaten im Sattel. Einige glitten unter dem Leib ihrer Pferde auf die andere Sattelseite, hingen am Hals ihrer Tiere oder unter ihrem Bauch, so dass es aussah, als schossen die Pferde herrenlos auf den Horizont zu. Andere ritten, eine Hand um den hohen Sattelbogen geklemmt, auf dem Rücken ihrer Pferde stehend, oder nur auf einem Bein! Ein Reiter schwenkte mit gellendem Schrei seine Fellmütze, warf sie vor sich hin, kippte blitzschnell aus dem Sattel und tauchte wieder auf – mit der Mütze auf dem Kopf!
Doch das war nur der Anfang. Jeder wollte sich als Sieger bei den eigentlichen Wettspielen auszeichnen. Es galt, vom Sattel der stürmenden Pferde aus eine Glücksschärpe oder eine Anzahl Zigarettenpäckchen vom Boden
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