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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Verwandten sind immer für sie da. Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen verwöhnen sie, spielen mit ihr oder hören zu, was sie Wichtiges zu erzählen hat. Das schützt sie und macht sie stark.«
    Ich lächelte.
    »Ja, sie sieht durchaus nicht unglücklich aus.«
    Um das Feuer herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, Reden und Gelächter. Longsela hielt sich ganz still, blickte über all die Gesichter hin. Ihr Ausdruck war abwesend und friedlich. Ich fragte Atan:
    »Geht sie zur Schule?«
    »Wir sind hier für vier Monate«, sagte er. »Mehr steht den Tieren nicht zur Verfügung, um genügend Fettreserven für den Winter aufzubauen. In dieser Zeit sind die Kinder mit ihren Eltern auf der Weide. Aber die Chinesen haben eine Liste mit den Namen aller schulpflichtigen Kinder. Schicken die Eltern ihr Kind nach dem 267
    Sommer nicht zur Schule, kommt die Polizei und holt sie. Unsere Kinder, siehst du, sind es gewohnt, sanft behandelt zu werden und ihren eigenen Dingen nachzugehen. Sie glauben auch nicht, dass sie mehr wissen als die Erwachsenen. So kommt es, dass die Schule für jedes Nomadenkind ein schlimmer Schock ist. Wenn es in die Schule kommt, weiß es immerhin noch, dass es ein Khampakind ist. Wenn es rauskommt, fragt es sich, warum es kein Chinese sein kann.
    Longsela ist überhaus klug, aber mehr als die Grundschule wird sie nicht schaffen. In allen Mittelschulen ist Chinesisch die einzige Unterrichtssprache. Aber tibetische Schüler erhalten vom neunten Lebensjahr an nur drei Stunden Chinesischunterricht pro Woche.
    Was sollen sie damit anfangen? Sie benutzen die gleichen Lehrbücher wie in China; aber ob sie zur höheren Schule kommen oder nicht, hängt davon ab, ob sie alle Fächer durcharbeiten konnten.«
    »Können es die Kinder?«
    »Natürlich nicht. Woher auch? Chinesisch bleibt für sie eine Fremdsprache.«
    A tan rauchte eine Zigarette. Longsela sah zu ihm empor und lächelte arglos. Inzwischen bekamen auch die Hunde, was ihnen zustand, und taten sich gierig daran gütlich. Kräftige Tiere: Sie zerrissen Fellreste, zerbissen mit ihren scharfen Zähnen große Teile des blutigen Gerippes, wobei sie einander anknurrten und die Nasen in scharfe Falten legten. Ich verzog das Gesicht und Atan sagte:
    »Sie tun dir nichts, solange du keine Angst vor ihnen hast.«
    Ich hielt meine mit Silber beschlagene Holztasse behutsam in beiden Händen.
    »Leicht gesagt! Sie zeigen wenig Respekt vor meinen Waden.«
    »Die Hunde sind unsere Begleiter«, sagte Atan. »Es ist wichtig, dass sie wirkliche Freunde sind, denn sie spüren sowohl Zuneigung als auch Angst. Und die Angst hat einen Geruch, der ihren Jagdinstinkt weckt. Die Hunde wissen mehr von uns, als wir glauben. Ich erinnere mich an einen überaus klugen und gefährlichen Wachhund, den ich vor vielen Jahren besaß. Wer-Ma ließ sich von niemandem anrühren und stand in dem Ruf, keinen guten Charakter zu haben. Eines Tages – mitten im Sommer –, als ich die Yaks über einen Bergkamm führte, wuchs eine Wolkenfront mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Höhe. Bald goss es in Strömen. Nach kurzer Zeit sank die Temperatur unter den Gefrierpunkt, aus dem Regen wurde Hagel. Dicke Kugeln prasselten 268
    auf mich herab; meine Hände bluteten, meine Füße waren Eisklumpen. Die Dunkelheit kam, und ich musste versuchen, dem Erfrieren zu entgehen. Endlich fand ich unter einer Klippenwand Schutz. Der Sturm brauste über meinen Kopf hinweg, überall lagen Hagelkörner wie schimmernde Vogeleier im Geröll. Da kroch plötzlich ein großer, dunkler Schatten zu mir. Wer-Ma legte sich neben mich, wärmte mich mit seinem Körper. So hielten wir uns gegenseitig am Leben. Bei Tagesanbruch beruhigte sich das Unwetter. Als ich aufstand, um weiterzuziehen, folgte mir Wer-Ma, kümmerte sich gewissenhaft um die Herde, wie er es immer getan hatte, und zeigte sich keine Spur freundlicher als sonst. Es war einfach seine Art; er hatte von den Menschen die Schnauze voll, wollte weder gezähmt noch abhängig gemacht werden. Deswegen glaube ich, dass wir lernen müssen, die Tiere zu verstehen. Jedes Tier hat seine Eigenart, wie wir auch.«
    Atan sprach mit schönen, weichen Gesten. Seine Hände, die ich fasziniert beobachtete, zeigten eine seltene Feinheit; manchmal waren sie hart wie Krallen, fähig, jede erdenkliche Arbeit zu verrichten; ein andermal gelenkig, fast weiblich sanft. Er hatte die ausdrucksvollen Bewegungen früherer Erzähler, die jeden Zuhörer, ob alt oder jung, in

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