Die Tochter der Tibeterin
das schon hinkriegen.
»Komm, sobald du kannst«, sagte Amla.
»Ich fahre sofort los.«
Eine halbe Stunde Autobahn. Überholende Pkws und Lastwagen, ein Geräusch, das mir durch Mark und Bein ging. Sei ruhig, Tara. Es nützt dir nichts, wenn du die Nerven verlierst. Abgedroschene Begriffe wie »Identitätskrise«, »Selbstfindungsprozess« und
»Konfliktsituation« zogen mir durch den Kopf, wie Sprüche auf einer Werbetafel. Begriffe, die mich zur Versagerin stempelten. Es war ungerecht, mit schlechtem Gewissen dafür bezahlen zu müssen.
Ich suchte vergeblich den Überblick zu behalten. Womöglich hatte Kunsang etwas völlig anderes erlebt? Eine Geschichte, die mit meiner überhaupt nichts gemeinsam hatte?
Zürich näherte sich in blaugrauer Sommerluft, mit Fensterfronten, blitzend im fahlen Licht, wuchs nach allen Seiten, überzog die Landschaft mit Beton und Asphalt. Der übliche Stau, die üblichen Ampeln. Ich fuhr durch verstopfte Straßenschluchten, zwischen Schaufenstern und Geschäftshäusern. Es war heiß, meine Augen klebten, die Bäume warfen spärliche Schatten. Endlich erreichte ich unser Viertel, fuhr langsam die Straße entlang. Drei Uhr nachmittags, blaue Zone; ich fand schnell einen Parkplatz.
Amla stand im Garten und wartete auf mich. Ihr goldbraunes Gesicht sah müde und eingefallen aus.
Mir fiel plötzlich auf, wie sehr ihr dunkles Haar von grauen 115
Strähnen durchzogen war.
»Du bist ja ganz verschwitzt«, sagte sie. »Komm, drinnen ist es kühler.«
Sie legte mir einen Arm um die Schulter, und ich staunte, wie fest er sich anfühlte. Ich bewegte mich wie im Schlaf. Sie führte mich in die Wohnküche, ich setzte mich auf die Eckbank.
»Tee?«, fragte sie.
Ihre Ruhe war außergewöhnlich, verblüffend. Sie goss Tee in die grünen Keramiktassen, die sie seit meiner Kindheit nie ersetzt hatte.
Ich nahm einen Schluck und sagte:
»Diesmal gehe ich zur Polizei.«
»Lies das zuerst«, sagte Amla.
Sie zog einen Umschlag aus der Brusttasche ihrer Tschuba und schob ihn über den Tisch. Ein kleiner, rosa Umschlag mit dem Abbild eines Tausendfüßlers. Im Umschlag steckten einige Bogen rosa Briefpapier. Das Ganze sah derart grotesk nach Briefwechsel unter Schülerinnen aus, dass ich am liebsten gelacht hätte. Aber mir stand nicht der Sinn danach. Kunsang begann ihren Brief ohne Anrede.
»Ich mag schwierige Wörter und merke sie mir gut. Aber sie passen nicht immer zu dem, was ich wirklich sagen will. Ich denke oft anders, als ich schreibe. Also, jetzt will ich sagen, dass ich zurück nach Tibet gehe. In letzter Zeit habe ich mich oft gefragt, ob ich weiterhin zur Schule gehen soll oder nicht. Endlich wurde mir klar, dass die Schule eigentlich unwichtig ist. Man braucht nur die Dinge mit dem Körper aufzunehmen, und dann weiß man genug. Da habe ich mich entschieden: Schluss mit der Schule! Ich habe den Flug nach Kathmandu gebucht. Von da aus fahre ich nach Pokhara, zu Karma. Und von da aus gehe ich nach Tibet. Der Flugschein war sehr teuer; aber Pala hatte mir seine Hutspange gegeben. Also suchte ich ein Geschäft am Limmatquai, in dem solche Dinge verkauft werden. Die Frau im Geschäft war sehr nett. Ich zeigte ihr die Hutspange. «Sie ist echt«, sagte die Frau und gab mir das Geld.
Nicht so viel, wie ich haben wollte, aber zum Glück hatte ich mir noch etwas Geld auf die Seite gelegt. Ich bat Pola um Verzeihung, dass ich seine Hutspange verkauft habe, aber er war mir nicht böse.
Er weiß ja, warum ich nach Tibet gehe; weil ich die alten Lieder lernen will, die er mir nicht mehr beibringen konnte. »Es gibt noch so viele!«, hat er mir oft gesagt. »Und bald ist niemand mehr da, der sie singt.« Jetzt werde ich es sein, die die Lieder singt; das wird Pola 116
große Freude machen. Von Pokhara aus fahren täglich Händler mit Lastwagen nach Tibet. Damals, im Camp, habe ich gut zugehört, was die Leute erzählten. Ich brauche den Händlern nur Geld zu geben, und sie bringen mich versteckt über die Grenze. In Tibet werde ich dann kein Geld mehr haben, aber das macht nichts. Ich werde zu Ani Wangmo gehen, und sie wird mir helfen. Wenn ich in Tibet bin, schreibe ich, wie es mir geht. Ich möchte Amla und der Familie keine Sorgen machen und für alles danken. Ich bin auch Tara nicht mehr böse. Eine Zeitlang war ich sehr böse auf sie, aber das ist jetzt vorbei. Es ist schon wahr, dass ich mich schlecht benommen habe.
Ich habe ihr versprochen, nie mehr Drogen zu nehmen, und werde mein
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