Die Tochter der Tibeterin
den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Sie hatte ihren Rucksack und die Windjacke dabei, als sie ging. Ich habe sie gefragt: ›Bist du nicht zu warm angezogen? ‹ Sie hat gesagt, nein, wir gehen heute mit der Klasse ins Schwimmbad, danach ist mir immer kalt.‹«
Ich stand hastig auf.
»Sehen wir mal nach!«
Kunsangs Zimmer war noch genau so, wie sie es verlassen hatte.
Ich sah das Bücherregal durch, öffnete Schranktüren, zog Schubladen auf, fuhr mit der Hand hinter die Kommode. Amla hielt beide Hände unter der Schürze verborgen. Sie war eine zutiefst loyale Frau, und dies war Kunsangs Zimmer. Es ziemte sich nicht für sie, herumzuwühlen.
»Nichts?«
»Nichts.«
Amla seufzte; es klang irgendwie erleichtert.
»Sie scheint es doch mitgenommen zu haben.«
Ich gab keine Antwort. Sätze kamen mir in Erinnerung, Sätze aus Kunsangs Tagebuch, jenes mit dem grünen Einband, das sie vor meinen Augen zerrissen hatte. Sie war ein Baum-Mensch, hatte sie geschrieben. Ihr Baum war die Buche. Und sie würde eine Geisterfalle bauen, damit der Baum ihr Geheimnis bewachte. Ich blickte aus dem Fenster in den Garten. Da standen verschiedene Bäume, golden und grün im Frühherbst. Ich sagte:
»Das Fadenkreuz. Wir müssen das Fadenkreuz suchen!«
Ich merkte, dass Amla dicht neben mir stand. Sie sagte nicht: Du sprichst so verwirrt, sie fragte lediglich:
»Hier?«
»Nicht hier«, erwiderte ich. »Im Garten.«
121
14. Kapitel
W ir brauchten nicht lange zu suchen. Das rote, kaum handtellergroße Fadenkreuz war an einem unteren Zweig der Buche befestigt. Es handelte sich um zwei kreuzförmig zusammengebundene Stäbchen, deren Enden mit roten Wollfäden verknotet waren. Die Wollfäden waren bereits verblichen. Das Gebilde zeigte eine ferne Ähnlichkeit mit einem Spinnennetz und war nicht besonders kunstvoll geknüpft. Aber Amla erkannte es sofort und stieß einen überraschten Ruf aus.
»Eine Geisterfalle!«
»Siehst du sie zum ersten Mal?«
Sie schüttelte betroffen den Kopf.
»Mir ist sie nie aufgefallen. Sie ist so klein!«
Sie kümmerte sich vorwiegend um den Gemüsegarten, erklärte sie mir. Die Bäume bildeten eine Hecke, die ebenso uns wie dem Nachbarn willkommenen Schatten bot; auch als mein Vater noch lebte, hatten meine Eltern sie selten gestutzt. Die kleine Buche wuchs dicht neben einer älteren Birke, die den jungen Baum zu beschützen schien. Ich sagte zu Amla:
»Ich wette, dass sie das Heft hier vergraben hat.«
Die Wurzeln hatten im Sommer viel Kraft gewonnen und wölbten sich wie Seile aus dem Boden. Amla machte ein paar Schritte, blieb stehen, und ich sah zu ihren Füßen einen geschwärzten Stein. Ich bückte mich, fuhr mit dem Finger über die dunkle Stelle und roch daran. Asche! Meine Nackenhaare sträubten sich.
»Sie hat hier ein Opfer dargebracht.«
Amla holte gepresst Atem.
»Tara, lass die Dinge, wie sie sind. Sonst wird sie zornig sein.«
»Sie ist fort«, sagte ich hart. »Und ich will wissen, was in ihrem Kopf vorging! Sie muss doch einen Grund gehabt haben!«
Sie sagte nichts mehr, sondern ging ein paar Schritte auf die Seite. Ich zögerte kurz, mit dem belastenden Gefühl, dass aus dem Blattwerk unsichtbare Augen auf mich herabschauten. Dann kauerte ich mich wieder vor dem Stein nieder und grub mit den Händen, um die untere Kante zu ertasten. Der Stein war nicht sehr groß. Ich legte ihn frei, indem ich die Erde fortscharrte; nach einer Weile krümmte ich meine Finger unter dem Stein und zog. Er bewegte sich leicht; 122
ich hob ihn ohne viel Mühe aus der lockeren Erde. Unter ihm klaffte eine kleine Höhle. Ich fasste hinein, berührte kleine Wurzelfasern, Steinchen und einen Wurm, der sich eilig wieder in den lockeren Boden grub. Ich wartete, bis das Tier fort war, und tastete abermals.
Jetzt spürte ich einen flachen, glatten Gegenstand. Ich griff danach und zog ihn hervor. Es war ein rotes Schülerheft, sorgfältig in eine Plastikfolie eingewickelt und zugeklebt. Ich lehnte mich zurück, holte tief Atem. Ich wünschte plötzlich, ich hätte nicht daran gerührt, hätte das Geheimnis in der Erde schlafen lassen. Doch jetzt war die Neugierde stärker. Ich legte das Heft neben mir auf den Boden, rollte den Stein wieder an seinen Platz zurück. Bevor ich ging, erinnerte ich mich an den Baumgeist und bat ihn um Verzeihung, dass ich seine Ruhe gestört hatte. Ich kannte seinen geheimen Namen nicht, aber wollte ich das Glück auf meiner Seite sehen, durfte ich ihn nicht kränken. Ich
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