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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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vergingen Wochen, in denen nichts geschah. Es kostet Mühe zu arbeiten, wenn man mit dem Geist woanders ist. Ohne Routine hätte ich das nicht ausgehalten. Kunsang! Wo mochte sie bloß sein?
    In Kathmandu? Schon in Pokhara? Aber Karma hatte noch nichts von sich hören lassen. Der August war heiß und trocken. Die Straßen rochen nach Teer, die Bäume waren ohne Schatten. Die meisten Leute waren in den Ferien, Zürich war wie ausgestorben. Den Schweizern machte das nichts aus. Aber ich war im Hochgebirge geboren. Assimilation hin oder her, ich mochte die Hitze nicht, diese Dunstglocke, die über Zürich brütete. Ich hatte noch Ferien übrig; vier Wochen standen mir zu. Ich dachte, ich nehme sie irgendwann, aber nicht jetzt, bloß nicht jetzt. Ich machte Überstunden, vertrat Kollegen, erfüllte gewissenhaft jede Aufgabe. Alles nur, um nicht nachzudenken. Ein Brechreiz quälte mich, mein Bauch gab mir unangenehme Signale. Dass Ärzte unfähig sind, sich selbst zu kurieren, ist sattsam bekannt. Immer dringlicher wartete ich auf eine Nachricht, die nicht kam. Geduld, Tara! Es wird schon alles gut werden. Dann, Anfang Oktober, nachts gegen elf, ein Fax von Karma.
    »Tara, ich habe Nachrichten. Sie sind möglicherweise nicht gut.
    Kunsang wurde in Kathmandu gesehen. Pema Thetong – du kennst sie ja – hat sie in der New Road in einem Stoffladen angetroffen.
    Pema hat in Berlin gearbeitet, wie du weißt, und wunderte sich, dass die junge Verkäuferin so gut englisch und deutsch sprach. Pema vergisst nie ein Gesicht, erkannte Kunsang und sprach sie an.
    Kunsang antwortete völlig unbefangen. Ja, sie sei wieder in Nepal; in der Schweiz habe es ihr nicht gefallen. Sie sei dabei, sich das Geld für die Weiterfahrt nach Tibet zu verdienen. Pema sagte ihr, dass ich in Pokhara auf sie wartete. Sie hätte es sich anders überlegt, erwiderte Kunsang; statt nach Pokhara zu gehen, wollte sie auf direktem Weg nach Tibet reisen. Sie machte einen heiteren Eindruck, sagte Pema. Sie konnte sich nicht länger mit Kunsang unterhalten, weil Kunden kamen und der Ladeninhaber ein böses Gesicht machte. Es war Pema auch nicht möglich, Kunsang nach Ladenschluss zu treffen, weil ihr Flugzeug nach New Delhi am gleichen Tag startete. Zwei Wochen später, auf der Rückreise, suchte 119
    Pema den Laden erneut auf; man sagte ihr, dass Kunsang die Stelle gekündigt hatte. Mehr konnte Pema nicht in Erfahrung bringen. Ich nehme an, dass sie schon unterwegs nach Tibet ist. Wenn ich bedenke, unter welchen Gefahren du Kunsang über die Grenze gebracht hast! Und jetzt geht sie freiwillig zurück. Sie muss eine große Einsamkeit in sich tragen. Was haben wir ihr bloß angetan, das nicht wiedergutzumachen ist?«
    »Sie ist in Tibet«, sagte ich zu Amla.
    Ich war am nächsten Abend, gleich nach der Arbeit, zu ihr gefahren. Es war noch hell; der Himmel, tagsüber diesig, war von einem grünlichen Blau. In der Ferne brauste der Wochenendverkehr.
    Amla schaute mir forschend und traurig in die Augen. Dass sie Menschen, die sie liebte, nicht verstehen konnte, überstieg ihr Fassungsvermögen. Wir Tibeter machen uns große Sorgen um jene, die uns nahestehen, aber es ist ebenso wahr, dass wir über Unglück und Schicksalsschläge pragmatisch hinwegkommen und – in manchen Fällen – sogar lachen können. Leidbringende Erfahrungen betrachten wir als unvermeidlich. Alle Menschen lernen das, aber im großen und ganzen lernen wir es etwas besser als andere. Doch die Sache mit Kunsang hing gleichsam als Anklage über uns. Karma sah die Dinge schon richtig. Worin lag unser Fehler? Was hatten wir falsch gemacht? Es ging uns durch und durch.
    »Ich habe nachgedacht«, sagte Amla. »Das Wesentliche ist, dass sie gesund ist.«
    »Sicher. Aber machen wir uns nichts vor – in Tibet kann es heikel für sie werden.«
    »Sie ist halsstarrig.«
    Ich schaute in Amlas Augen und vermeinte darin einen Funken von Anerkennung zu bemerken, kaum wahrnehmbar, so dass ich mich nicht traute, ihn überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
    »Ich entsinne mich nicht, dass sie in ihrem Tagebuch etwas davon geschrieben hat«, sagte ich. »Die Rückehr nach Tibet war so eine Art Wunschtraum für sie. Aber nichts Konkretes.«
    Amla schluckte.
    »Es gab noch eins… «
    Ich hob fragend die Brauen. Sie nickte unglücklich.
    »Noch ein anderes Heft, meine ich. Rot eingebunden. Ich habe es gesehen.«
    Ich blickte sie starr an.
    »Glaubst du, dass sie es mitgenommen hat?«
    120
    Amla schüttelte zweifelnd

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