Die Tochter der Tibeterin
Versprechen halten. Pola sagt auch, das ist schlecht für mich.
Und das stimmt: Sobald das Kokain meine Nasenschleimhäute durchdringt, denke ich an ganz entsetzliche Dinge. Statt Lieder hörte ich nur, wie meine Zähne knirschten: krr, krr, krr. Das machte mir große Schuldgefühle. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Pola wirklich tot ist. Ich weiß doch, dass er irgendwo in Tibet weiterlebt.
Ich rede oft mit ihm, und er sagt, was du vorhast, ist gut. Nachts kann ich hören, wie er mich ruft: ›Komm, Kunsang! Wir singen! ‹
Im Traum sehe ich, wie die Lieder zum Vorschein kommen. Sie wachsen aus mir, wie Blätter und Blumen. Pola hat mir neue Augen und Ohren geschenkt. So sehe ich und höre ich viele Dinge, die auch er sieht und hört. Für Pola habe ich immer den Reiter kommen lassen, den Reiter auf seinem Pferd. Das hat ihm immer am besten gefallen und das war auch das Bild, das Pola in seiner Pupille trug, als er starb. Ich weiß es ganz genau, weil ich für ihn gesungen habe, und Pola mir sagte: ›Er ist da!‹ Pola fühlte sich dabei unendlich beruhigt, aber das ist unser Geheimnis, und mehr kann ich dazu nicht sagen.
Wenn ich in Tibet bin, werde ich schreiben, wie es mir geht und was ich alles erlebt habe. Ich bin glücklich und kann es eigentlich nicht begreifen, wo ich doch allen großen Kummer mache. Und ich schäme mich, weil ich nicht sagen kann, was ich wirklich sagen will.
Die Worte sind in mir und bewegen sich wie Fische im Wasser. Ich kann sie nicht festhalten. Es tut mir Leid. Ich danke euch für alles.
Eure Kunsang.«
Sie ist verrückt, dachte ich. Verrückt und gemein. Doch nein, sie war weder das eine noch das andere. An dieser jungen Frau ist etwas Geniales, das musste ich anerkennen. Eine ganz besondere Art von Kreativität. Nicht bloße Intelligenz, sondern mehr: echte, 117
unverfälschte Kreativität. Ich legte den Brief auf den Tisch und sah zu Amla hinüber. Sie erwiderte meinen Blick. In ihren Augen stand Verwirrung und Schmerz.
»Ich habe sofort Lhamo angerufen. Sie sagt, die Maschine der Air India nach Kathmandu geht zweimal wöchentlich um elf. Heute ging die Maschine. Ich fand den Brief erst später, als Kunsang nicht von der Schule kam und ich mir Sorgen machte. Lhamo hat bei Air India angerufen. Kunsangs Name stand auf der Passagierliste.«
Wenn es darauf ankam, war Amla geschickt im Organisieren.
Gerade ihre weltfremde Art bewirkte, dass man ihr gewissenhaft half. Sie hatte schon so viel herausbekommen, dass für mich kaum noch etwas zu tun blieb.
»Die Sache mit der Polizei«, sagte Amla entschieden, »die kannst du vergessen. Ich will nicht, dass sie bei der Ankunft festgenommen wird.«
»Wer hat ihr bloß die Flugverbindung herausgesucht?«
»Lhamo natürlich. Wer sonst? Sie hat keinen Verdacht geschöpft.
Sie wusste ja, dass Kunsang sich für ihre Arbeit im Reisebüro interessierte. Kunsang hat oft angerufen und Fragen gestellt.
Angenommen, sie wollte nach Nepal? Welche Maschine landete in Kathmandu? Wie teuer war der Flug? Brauchte sie ein Visum?
Lhamo hat ihr alles ganz genau erklärt. Aber was nun? Was wird jetzt aus ihr?«
»In Kathmandu wird man ihr weiterhelfen«, antwortete ich hart.
»Tibetische Solidarität ist verlässlich. Nach Pokhara kann sie mit dem Bus fahren. Ich werde Karma sofort ein Fax schicken, dass Kunsang von zu Hause fortgelaufen und unterwegs ist. Und dass sie ihr bloß diese Schnapsidee ausredet, nach Tibet zu gehen!«
Wieder in meiner Wohnung, schrieb ich ein paar Zeilen an Karma. In Nepal war die Technik nicht auf dem neuesten Stand; bis ich endlich das Gefühl hatte, das Fax sei durchgekommen, knackste und surrte und pfiff es in sämtlichen Tonlagen. Ich verbrachte einen scheußlichen Abend, ein ständiges Würgen quälte mich, mein ganzer Magen war in Aufruhr. Mitten in der Nacht schreckte mich ein schrilles Summen aus dem Schlaf. Ich tastete nach der Nachttischlampe, stand taumelnd auf. Auf schwankenden Füßen schleppte ich mich zu meinem Schreibtisch. Ein Fax von Karma!
»Sei ruhig, Tara, ich werde mich um sie kümmern. Natürlich bin ich auch etwas besorgt. In solchen Augenblicken malt man sich immer das Schlimmste aus. Aber wir müssen uns klar machen, dass sie kein 118
Kind mehr ist und vielleicht eine ganz andere Art hat, das Leben zu sehen. Beruhige dich also! Sobald sie in Pokhara eintrifft, gebe ich dir Nachricht. Von Atan weiß ich nichts. Er hat sich schon jahrelang nicht mehr blicken lassen. Tut mir Leid.«
Es
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