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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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von Bethlehem folgten, überhaupt nicht als fremde Geschichte. Aber das behielt ich für mich. Ich beanspruchte diese Einsicht ganz für mich allein, ich wollte sie nicht teilen, denn sie war ein Teil meines Selbst.
    Ja, und damals, als Atan mit mir reiten ging, geschah eines Tages etwas sehr Merkwürdiges.
    Zunächst erzählte er mir, dass die Khampas die Tiere stets als Lehrer betrachtet hatten.
    »Unsere Vorfahren lernten von den Tieren, welche Pflanzen essbar und welche giftig waren. Die Tiere wussten, wo man Wasser fand. Sie zeigten den Menschen, wie sich das Wetter veränderte, wenn Sturm drohte oder Dürre ausbrach. Die Tiere wussten diese Dinge. In alten Zeiten gab es keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Menschen konnten sich in Tiere verwandeln und ein Tier konnte zu einem Menschen werden.«
    »Jetzt nicht mehr?«, fragte ich.
    »Die Zeiten haben sich geändert. Aber die Tiere sind immer noch unsere Freunde und Gefährten. Wie man sich ratsuchend an ältere Geschwister wendet, so kann man Hilfe bei den Tieren finden.«
    »Woher weißt du das?«
    Er zögerte, und erzählte dann:
    »Als ich in deinem Alter war, hatte ich einen Tierbruder, einen kleinen Yakbullen mit schneeweißem Fell. Die sind selten – hast du das gewusst?«
    »Nein.«
    »Sein Name war Yu – Türkis. Seine Mutter war bei der Geburt gestorben, und wir hatten ihn aufgezogen.«
    »Hast du mit ihm gespielt?«
    »Ja, gewiss, wir teilten sogar das Lager. Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie schnell so etwas wächst, so ein Yak! Er wurde immer 125
    größer und kräftiger, verfolgte unsere Hirtenhunde und richtete viel Unfug an. Mein Großvater entschied: ›Ein wilder Yak gehört ins Gebirge!‹ Ich war sehr traurig, aber ich musste gehorchen. Wir haben Yu fortgebracht und ich habe ihm erklärt, dass wir uns trennen müssten.«
    »Konntest du mit ihm sprechen?«
    »Ich habe es ihn fühlen lassen. Er verstand diese Dinge.«
    »Und was wurde aus ihm?«
    »Er wuchs zu einem mächtigen Leitbullen heran, der seine Herde schützte und seine Nebenbuhler mit den Hörnern zerfetzte. Und eines Tages…«
    Sein Gesicht hatte sich plötzlich verwandelt; es war, als ob etwas Eisiges, Unerbittliches von seiner Seele Besitz ergriff.
    »Ich hatte einen Feind. Einen Mörder…«
    Ohne den Satz zu vollenden, starrte er mich an. Seine Stirn war von tiefen Falten durchzogen. Er schien auf meinen Gesichtszügen eine Erklärung zu suchen, die ihm abging. Eine vage Unruhe überfiel mich.
    »Und dann?«, fragte ich.
    Er stand vor mir, hielt die Fäuste geschlossen in Hüfthöhe. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen; ich spürte eine ungewohnte, beklemmende Furcht in mir aufsteigen – und wusste nicht, warum.
    »Was war denn los?«, rief ich erregt.
    Er sah mich an, sah geradezu durch mich hindurch. Es war ein Blick, den ich nie vergessen werde. Auf einmal fuhr er sich mit der Hand über die Lippen. Endlich sprach er weiter, aber sogar seine Stimme hatte sich verändert. Er redete leise und dumpf, wie im Selbstgespräch oder im Traum.
    »Ich habe Yu gerufen. Er hat den Mörder verfolgt und aufgespießt. Noch Jahre danach trug er die Reste seines Gerippes auf den Hörnern.«
    Ich spürte eine Gänsehaut. War das eine furchtbare Geschichte!
    »Ist das wahr? Ist das wirklich wahr?«
    Er wischte sich von neuem die Stirn. Wie soll ich den Ausdruck beschreiben, mit dem er mich musterte? In seinen Augen lag etwas… Unerklärliches, etwas Unheimliches. Wohin, an wen und auf was richtete sich über mich hinweg sein Zorn, seine Qual? Ein merkwürdiger Gedanke kam mir: »Gleich wird er sich auf dich stürzen, dich schlagen!« Aber nichts dergleichen geschah. Ein trockenes Lächeln, dann streckte er die Hand aus. Seine Finger 126
    berührten mein Haar.
    »Es ist wahr«, sagte er.
    Ich spürte, da gab es Dinge, die er mir nicht sagte – es wahrscheinlich nicht über sich brachte, sie mir zu sagen. Und doch glaubte ich zu ahnen, dass diese schreckliche Geschichte irgendwie, auf besondere Art, auch mich betraf. Ich geriet in Panik, ich wusste nicht mehr, wer und wo ich war. Es war, als suchte ich mich selbst, als hätte ich mich verloren.
    Und einige Tage später geschah die Sache mit den Vögeln. Sie kamen immer in großer Zahl, bei Sonnenuntergang, und schliefen am Bachufer zwischen Gras und Schilf. Das war genau der Ort, wo ich Rongpa zum ersten Mal unter dem Baum gesehen hatte. Eines Abends, als ich den Rappen zur Tränke führte, sah ich die rot gekleidete

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