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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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war in Europa erzogen worden, hatte gelernt, Ursache und Wirkung miteinander in Beziehung zu bringen. Es war so leicht zu glauben, die Welt sei geordnet, erforscht und ohne Geheimnisse!
    Aber ich trug noch eine andere Denkart in mir, die genau das Gegenteil sagte und in Zeiten der Verwirrung mit solcher Plötzlichkeit hervorbrach, dass ich mir wie ein anderer Mensch vorkam. Amla konnte das nicht geschehen; sie war zu fest in ihrem Gottvertrauen verankert. Kein Zweifel konnte ihre Zuversicht und ihre Demut erschüttern. Ihr Glaube war für sie lebendig und greifbar in allen Schattierungen des Schmerzes und des Glücks. Sie war sich dessen allerdings nicht bewusst, würde sich dessen nie bewusst sein; es war einfach ihre Art zu leben.
    »Nimmst du das Heft mit?«
    Amlas Mundwinkel waren leicht nach unten gezogen. Ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll, einfach nur traurig.
    Ich befreite den Plastikeinband von den letzten Brocken Erde.
    »Ja. Ich will es in Ruhe lesen.«
    Meine Träume gehören mir allein (schrieb Kunsang in ihrer akkuraten Schülerinnenschrift). Kein anderer Mensch kann so träumen. Wenn ich träume, habe ich den Eindruck, dass alles wahr ist, und irgendwie ist es ja auch wahr. Ich glaube sogar, dass ich beim Träumen spreche, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Irgendwie ist das sehr merkwürdig. Manchmal glaube ich, die Zeit schnellt zurück; ich sehe Dinge, die ich als Kind gesehen habe, und zwar ganz deutlich. So deutlich, dass ich mir sage, ich kann diese Dinge ändern, wenn ich nur will, und dann wird mein Leben ganz anders.
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    Aber während ich noch überlege, wie sich das machen lässt, bewegt sich die Zeit wieder vorwärts, und dann ist es zu spät. Ich denke, beim nächsten Mal schaffe ich es besser, aber es sind immer ein paar Dinge, die ich vergesse. Inzwischen weiß ich, dass meine Träume doch irgendwann einmal existiert haben. Das ist sehr wichtig. Das Pferd, zum Beispiel, das Pferd hat mich sofort erkannt.
    Ich habe das Pola erzählt, und er sagte: »Wenn ein Mensch wiedergeboren wird, warum nicht auch ein Tier?«
    Das leuchtete mir ein. Ich fragte Pola:
    »Wer war ich in meinem früheren Leben?«
    Pola sagte: »Das musst du selbst herausfinden.«
    »Wie?«, fragte ich.
    »Durch ein besonderes Gefühl, oder durch ein Zeichen, etwas, das gesehen oder gehört werden kann.«
    Bei dieser Antwort kamen mir viele Dinge in den Sinn. Dinge, die ich jetzt aufschreiben werde, damit ich sie nicht vergesse. Aber keiner darf sie wissen. Sie sind ein Geheimnis zwischen Onkel Atan und mir. Das größte aller Geheimnisse!
    Es ist ja klar, alles muss einmal beginnen. Bei mir begann es, als ich das Pferd zum ersten Mal sah, und als ich glaubte, dass eine Frau auf seinem Rücken saß. Eine Frau in einem roten Kleid. Ich blinzelte, um sie genauer zu sehen – schon war die Frau verschwunden. Ich war erstaunt, aber nicht allzu sehr; ich sah manchmal Dinge, die es in Wirklichkeit nicht gab. Was ich gesehen hatte, wenn ich tatsächlich etwas gesehen hatte, musste ein Schatten gewesen sein.
    Später kaufte Onkel Atan das Pferd; wir gaben ihm den Namen Rongpa, und er lehrte mich reiten. Er erklärte mir ein Sprichwort der Khampas: »Du kannst ein Pferd zum Wasser führen, aber du kannst es nicht zum Trinken bringen.« Das bedeutet, dass ein Pferd sich nur führen lässt, wenn es seinem Reiter vertraut. Mit etwas Übung allerdings und viel Gefühl kann man das Pferd dazu bringen. Der Reiter denkt, was sein Pferd machen soll, und das Pferd versteht seine Gedanken.
    »Wie?«, fragte ich.
    »Indem er mit dem Tier eins wird«, sagte Atan.
    Ich wollte wissen, wie das ging. Er versuchte, es mir verständlich zu machen.
    »Das ist gar nicht so schwierig. Du lebst ja, ich lebe, und Rongpa lebt auch. Er ist ein Tier, und wir sind Menschen, aber es besteht 124
    eine Verwandtschaft zwischen uns. Wir sind wie eine Familie, in einem großen Gefühl vereint. Unser Lebenslauf deckt sich mit dem Lebenslauf aller Dinge. Tod und Wiedergeburt, das ist das ewige Wunder der Schöpfung.«
    Ich war damals ein Kind, aber seine Worte trafen mich wie ein Blitzschlag. Jahre sind seither vergangen, aber mein Körper hat sich die Erinnerung daran unwillkürlich und unmittelbar zu eigen gemacht. Deshalb kamen mir die Dinge, die Pola mir später sagte, so vertraut vor. Und auch in der Schule, zur Weihnachtszeit, empfand ich die Geschichte von dem Jesuskind in der Krippe, von dem Ochsen und dem Esel und von den drei Königen, die dem Stern

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