Die Tochter der Tibeterin
vorwärtsgetragen von einer Spannung, die mit jedem Schritt wuchs, bis ich mich ganz nahe bei den Schauspielern befand. Und auf einmal glaubte ich das Lied, das die Göttin sang, zu erkennen. Nun verwirrten sich meine Gedanken.
Ich überlegte, wo ich das Lied zum ersten Mal gehört hatte, und plötzlich kam es mir in den Sinn. Es war der Gesang, mit dem einst eine Frau eine Stadt zum Widerstand aufgerufen hatte! Aber das ist eine andere Geschichte und darüber rede ich nie. Jedenfalls, als ich das Lied hörte, fühlte ich mich mit diesen Leuten ganz vertraut und sang alle Strophen mit, so wie ich sie im Kopf behalten hatte, auch wenn ich die Worte nicht verstand. Da schüttelte einer der Schauspieler, als Clown verkleidet, plötzlich seinen mit Glöckchen versehenen Stab, zeigte auf mich und rief:
›Oh, oh, oh! Hast du gesungen? Huh, huh, huh, woher kennst du dieses Lied?‹
Ich wurde verlegen und sagte, ich habe es als Kind gehört, und später habe mir mein Großvater viele andere Lieder beigebracht.
›Wie heißt du?‹, fragte der Clown. Ich nannte ihm meinen Namen. Er blinzelte mir zur:
›Sollen wir singen, Kunsang? Komm, sing mit mir!‹
Und so sangen wir dann gemeinsam das Lied. Daraufhin nahm der Clown seine Maske ab, und ich sah, dass er eine alte Frau war.
Ihr Gesicht hatte schon die Welt jenseits des Todes erblickt, wie eine zweite Maske, die sie unter der ersten auf der Haut trug. Und auch ihr Körper war nicht aus lebendigem Fleisch, der sich für irgendeine Rolle verkleidet hat. Sie stellte selbst eine Geschichte dar, sie war eine Gottheit, die in einem menschlichen Körper wohnte. Sie sagte:
›Du singst, wie man singen muss.‹
Da wurde mir plötzlich schwindlig; ich sah irgendwie meine eigenen Fußstapfen neben den ihren im Staub. Etwas Großes ereignete sich ganz still. Ich hätte weinen mögen, ich hätte tanzen mögen. Doch ich brachte kein Wort über die Lippen.
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›Mein Name ist Yuthok‹, sagte die alte Frau. Ihre Stimme war dunkel und rau wie das Echo einer bronzenen Tempelglocke. ›Du hast mir etwas zu sagen. Sprich! ‹
›Wie bringst du es fertig zu wissen, was ich denke?‹, rief ich erschrocken.
Jetzt erst merkte ich, dass die Schauspieler einen Kreis um uns gebildet hatten. Sie hatten ihre Masken abgenommen. Obwohl fast alle jung waren, hatten Sonne, Staub und Entbehrungen ihre Gesichter schon gezeichnet; ihre dunkle Haut war rissig, ihre Lippen waren aufgesprungen. Sie lachten, pufften sich gegenseitig in die Rippen, als hätte ich die dümmste aller Fragen gestellt, was wahrscheinlich ja auch der Fall war. Ich jedoch betrachtete nur die Frau, die aufrecht vor mir stand. Ihre Hände und Füße waren stark und kräftig, aber verkrümmt wie die Rinde eines Baumes. Sie war die einzige, die nicht lachte. Es war, als dringe ihr ruhiger, kühler Blick bis in die Tiefe meiner Seele.
›Seit Jahrzehnten hatte ich genügend Zeit, mich darin zu üben‹, sagte sie. ›Nun, was wünschst du dir von mir?‹
Da zögerte ich nicht länger.
›Ich möchte dich auf deiner Reise begleiten und alle Lieder lernen, die du kennst. Es gibt nichts, was ich lieber möchte als das!‹
Die alte Frau schien nicht überrascht, sondern sagte lediglich:
›Du solltest es dir gut überlegen. Es ist ein hartes Leben.‹
›Das sehe ich schon. Aber das macht nichts!‹
Yuthok blickte mir voll ins Gesicht. Ihre Mundwinkel zuckten: Es war, als ob sie lächelte. Der Wind spielte in ihrem grauen Haar, das weit über ihre Schultern fiel. Das abgezehrte Antlitz schien kaum noch fähig, eine Gefühlsregung auszurücken, dennoch war es schön, so wie rissige Erde manchmal schön ist, wenn sie nass war und in der Sonne trocknet.
›Du kannst mitkommen‹, sagte sie.
Seit diesem Tage ziehe ich mit Yuthok und ihrer Gruppe umher.
Vor einigen Jahren hatten die Chinesen das Gewerbe der Schauspieler verboten. Da traten sie heimlich auf und lebten in großer Gefahr. Jetzt dürfen sie wieder spielen. Aber viele von ihnen hatten ihre Kunst vergessen. Yuthok ist alt, aber sie hat ein gutes Gedächtnis, und ich habe so viele Fragen im Kopf! Es stimmt schon, dass wir ein raues Leben führen. Mein Körper ist krank – ich kann mich da nicht täuschen. Nachts liege ich stundenlang wach, habe kein Gefühl mehr im Rücken und sehe, wie die Sterne kreisen.
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Manchmal fällt ein Stern vom Himmel, und ich denke, was ist er nun? Gewöhnlicher Staub? Auch bei Sonnenschein ist mir kalt; der Gedanke, mich zu waschen,
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