Die Tochter der Tibeterin
macht mich frösteln. Ich habe ständig leichtes Fieber. Meine Mutter war auch krank, ich entsinne mich gut.
Vielleicht bleibt mir nur wenig Zeit? Vielleicht muss ich bald sterben? Aber bis es soweit ist, habe ich noch so viel zu lernen, habe tausend Fragen im Kopf. Yuthok sagt, ich bin zum Gesang geboren.
Jene, die zum Gesang geboren werden, haben mehr als eine Stimme.
Sie bringt mir besondere Übungen bei: Ich muss Tierstimmen nachahmen, wie ein Vogel pfeifen oder wie eine Biene summen. Sie stopft mir kleine Kiesel in den Mund oder lässt mich neben Stromschnellen singen; erst wenn meine Stimme das Tosen des Wassers übertönt, ist Yuthok zufrieden. Schon jetzt hat sich meine Stimme verändert: Sie kann schrillen oder zirpen, knarren wie die Stimme eines alten Mannes, der sich morgens räuspert, oder glucksen wie Schaumblasen im Schlamm. Meine Lippen werden dabei trocken und platzen auf, meine Kehle schmerzt, es kommt sogar vor, dass ich Blut spucke. Manchmal bin ich für kurze oder längere Zeit ›irgendwo‹. Ich rieche einen Duft – wie den Duft von Mandelkern –, und dann gehe ich an viele Orte und sehe seltsame Dinge. Nachher erinnere ich mich kaum daran. Ich bin strebsam nach dem Maß meiner Fähigkeiten, aber Yuthok sagt, es muss noch mehr werden. Sie lehrt mich die Dr any en spielen, unsere traditionelle Bratsche mit dem Pferdekopf. Sie entlockt diesem Instrument so klare und reine Melodien, dass ich beginne, in den Farben, Lauten, Berührungen und Geräuschen um mich herum eine ganz neue Welt zu entdecken. Auch die Trommel, die ich schlagen lerne, heißt
›Geisterpferd‹. Der Schlegel ist die ›Peitsche‹. ›Weil es die Pferde sind, die uns in ein Anderswo tragen‹, sagte Yuthok. ›Wohin?‹, habe ich gefragt. ›Das musst du selbst entdecken‹, sagte sie, und ich glaube, sie meint, in meinem Kopf. Das ist eine Sache, die ich gut verstehe. Meine Trommel ist eine siebförmige Rahmentrommel.
Bevor ich sie schlage, muss ich sie um ihren Segen bitten und mit Wasser anfeuchten, um sie geschmeidig zu machen. Der Schlegel ist aus Eibenholz gemacht und viel zu massiv für meine Hand. Wenn ich ihn längere Zeit führe, werden meine Arme bleischwer und meine Finger weiß. Dann lässt mich Yuthok die Hände gegen den Rücken schlagen und mit den Armen kreisen wie ein Windrad. Und so tanze ich und schlage um mich, bis die Adern hervortreten und neues Blut in den Fingerspitzen brennt, und die Berge stehen 141
ringsum und schauen mir zu. Ich habe immer gedacht, Berge seien aus Stein. Aber hier sind jahrtausendalte Ablagerungen, die morastartige Sümpfe bilden. In diesen Sümpfen stecken Schweiß und Seuchen, Knochen von Menschen und Tieren, die Ruinen zerstörter Städte und das Blut der Ermordeten. Ich lebe im Bann der Schatten, alle Bilder nehmen an Schärfe zu. Mein Herz schlägt wild, mein Kopf füllt sich mit Schreien, und meine Zunge flattert wie ein gefangener Vogel. Selbst tagsüber bin ich ganz verrückt vom Rausch der Träume; ich lebe zwischen Wirklichkeit und Wahn. Yuthok sagt:
›Das musst du auf dich nehmen. Und singe jetzt! Singe!‹ Die Lieder sind in mir, sie brechen hervor, ein im Himmel und auf der Erde widerhallender Gesang. In der großen Stille der Berge und Hochweiden höre ich die Stimme der Toten. Ich rufe sie, und sie singen mit mir. Es ist wirklich so: Ich schreibe von meiner Erfahrung.
Hier in Tibet kann ich den Brief nicht aufgeben, weil alle Briefe geöffnet und zensiert werden. Deswegen vertraue ich ihn einem Freund an, der auf dem Landweg nach Nepal reist. Ich möchte nicht, dass ihr euch meinetwegen Sorgen macht. Meine tibetische Sprache ist wieder gut, nur die Schrift macht mir Mühe. Ich werde sie wohl nie richtig lernen. Danke für alles. Kunsang.«
142
16. Kapitel
I ch hatte Kunsangs Brief laut vorgelesen; nun hatte ich das Gefühl, dass meine vertraute Welt wegbrach wie ein Bergsturz. Im Allgemeinen hatte ich ein sicheres Gefühl für das, worauf es bei den Menschen ankommt, aber bei Kunsang nicht – niemals! Immer wieder, kommend und gehend wie eine Wolke, hatte sie ihre Fremdartigkeit bewahrt, dass man glauben konnte, eine Unbekannte wohne im gleichen Haus. Sie hatte uns alle hinters Licht geführt.
Aber nein, nein! Was immer sie auch war, es kam aus ihrem Innern, und sie konnte nichts dafür…
Ein kleines Weilchen saßen wir stumm da. Ich fühlte mich hilflos, elend. Amla starrte auf den Brief; sie konnte kein Auge davon wenden. Vor ihrem reglosen
Weitere Kostenlose Bücher