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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Gesicht konnte ich weder schimpfen noch den Brief zerreißen. Schließlich brach sie mit leiser Stimme das Schweigen.
    »Was ist das für ein Lied, das sie derart beschäftigt? Sie hat es schon früher erwähnt, nicht wahr!«
    Ich hatte mich noch nicht ganz in der Gewalt und zögerte einen kurzen Augenblick. Dann gab ich mir einen Ruck. Besser, die Dinge ans Tageslicht zu bringen. Mich quälte lediglich, dass ich so behutsam sein musste.
    »Es ist ein Lied, das Atans Mutter sang. Atan war Chodonlas Geliebter – das habe ich dir doch erzählt?«
    Sie nickte weich und etwas zurückhaltend. Mit zunehmendem Alter sah sie sich die Worte auf ihren eigentlichen Inhalt immer sehr genau an. Sie hatte ein merkwürdiges Verständnis für diese Dinge; im Grunde genommen konnte man mit ihr über alles sprechen.
    »Atan hat Kunsang ein Lied vorgesungen, und sie hat dabei seine Mutter Shelo gesehen, wie sie auf dem Turm stand und sang. Das war vor fünfzig Jahren in Lithang gewesen, als die Chinesen die Klosterstadt belagerten.«
    Ich sah, wie in Amlas ruhigem Blick ein düsterer Funken zuckte.
    »Ja, ich entsinne mich. Die Gerüchte drangen spärlich nach Lhasa.
    Aber es musste schrecklich gewesen sein. Wir wussten Bescheid.«
    Ich brauchte ihr keine Einzelheiten zu erzählen. Die Volksarmee hatte die Klosterstadt vierundsechzig Tage lang unter Beschuss genommen. Bald fehlten die Lebensmittel, die Brunnen froren zu, das Brennholz wurde knapp. Nach einiger Zeit gab es keinen Baum 143
    und keinen Strauch mehr in Lithang. Die Kinder starben vor Hunger, die Verwundeten konnten nicht gepflegt werden. Die Volksarmee hatte geglaubt, leichtes Spiel zu haben, aber die Bevölkerung kämpfte um jeden Fußbreit Boden. Und Nacht für Nacht, immer wieder, war es Shelos Gesang, der den Kämpfenden Mut gab. Und als die Chinesen einsahen, dass sie die Stadt nicht einnehmen konnten, setzten sie die Luftwaffe ein: Lithang wurde dem Erdboden gleichgemacht. Dann kamen die Fußtruppen und übten Vergeltung.
    Nur wenige überlebten das Blutbad. Es war Vollmond, hat mir Atan erzählt. Man sah die Leichenberge gut. Die Soldaten übergossen Tote und Sterbende mit Benzin, zündeten ihre Haare an. Überall in den Ruinen brannten solche Scheiterhaufen.
    Amlas lange, feingliedrige Hände waren plötzlich zu Fäusten verkrampft.
    »Eigentlich ist’s noch nicht so lange her. Und was geschah mit Shelo?«
    »Sie wurde von den Chinesen gefangengenommen. Man vergewaltigte sie, schnitt ihr die Zunge heraus, und hängte sie über ein kleines Feuer, das langsam ihre Füße und Beine verkohlte… «
    »Sei still!«, flüsterte Amla. Es war, als wollte sie nicht mehr atmen.
    »Noch eines musst du wissen. Atan – wie alt war er damals?
    Neun oder zehn Jahre alt, gewiss nicht älter…«
    »Ein kleiner Junge…«
    Ich nickte, mit zugeschnürter Kehle.
    »Die Chinesen hatten ihn für tot gehalten und liegen lassen. Als er erwachte, hatte er noch einen Pfeil in seinem Köcher. Er machte sich auf die Suche nach seiner Mutter. Da sah er, was man ihr angetan hatte. Er bat sie um ihren Segen und… «
    Ich schluckte würgend, ich brachte die Worte kaum heraus.
    Amlas Gesicht war wachsbleich.
    »Er hat sie getötet, nicht wahr?«
    Mein ganzer Körper bebte. Ich presste die Finger fest ineinander.
    »Er konnte gut mit dem Bogen umgehen. Er hat sein Ziel nicht verfehlt…«
    Sie zuckte zusammen. Dann ließ sie ihren Kopf seltsam zur Seite fallen, mit einer Bewegung allgemeiner Verzweiflung, und flüsterte rau:
    »Er hat getan, was richtig war.«
    Ich nickte matt.
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    »Sein ganzes Leben trägt er die Erinnerung in sich wie eine Wunde. Eine Wunde, die niemals heilen wird…«
    Wir starrten einander an. Keine von uns vermochte die richtigen Worte zu finden. Endlich bewegten sich Amlas Lippen.
    »Und Kunsang?«, sagte sie, mitten aus ihren Gedanken heraus.
    »Ich habe Atan nie gefragt, ob Chodonla die Geschichte kannte.«
    Sie rieb sich mit zwei Fingern die Stirn, genau wie ich es in Augenblicken der Verwirrung auch tat.
    »Er wird nicht davon gesprochen haben, als Kunsang dabei war.«
    »Ich kann es mir nicht vorstellen. Er hätte ihr niemals solche Dinge erzählt. Und was Chodonla betrifft… Nein, das ist undenkbar!
    Und doch erinnert sie sich an Dinge, die im Leben eines anderen geschehen sind.«
    »Von wem redest du?«
    »Von Kunsang. Ich rede die ganze Zeit nur von ihr. Sie erzählte Atan, was er als kleiner Junge erlebt hatte.«
    »Als kleiner Junge? Unmöglich!«
    »Doch.

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