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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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seiner Augen schimmern.
    »Wen holst du herbei, Kunsang?«
    »Deine Mutter. Mit dem Lied kann ich sie kommen lassen.«
    Stille. Doch ich spürte die Spannung und Erregung, die ihn ergriffen hatte.
    »Wie kommst du darauf?«
    Ich wusste nicht, wie ich zu reagieren hatte oder was ich fühlen sollte. Das Beste war wohl, ihm die Wahrheit zu sagen.
    »Wenn du das Lied singst, dann sehe ich sie. Sie steht auf einem Turm und singt. Überall sind Rauch und Trümmer. Sie wandert auf und ab und bewegt die Arme, so…«
    Ich zeigte ihm die Bewegung: Es war, als sammle sie etwas ein, was sie nicht sehen konnte und an sich zog. Atan saß völlig reglos.
    Rau stieß er hervor:
    »Habe ich davon gesprochen?«
    »Nein. Ich habe es gesehen.«
    Er fuhr leicht zusammen.
    »Wie ist das möglich?«, murmelte er.
    »Ich denke, das war ihr Lieblingslied«, sagte ich.
    Er starrte mich an, den Blick auf ferne Orte und Dinge gerichtet.
    »Nein. Es war das letzte Lied, das sie sang, bevor sie ihre Stimme verlor… «
    »Hast du es noch gut in Erinnerung?«
    »Das Herz vergisst nie, was es einmal geliebt hat.«
    »Kannst du es mir beibringen?«
    Er schwieg. Ich sah seine Augen, diese dunklen Quellen, aus denen so viel Feuer zu mir geflossen war, gutes Feuer. Ich sagte:
    »Du schaffst es nämlich nicht. Sie ganz herbeizuholen, meine ich. So, dass auch du sie sehen kannst.«
    Er hatte jetzt die Augen geschlossen.
    »Nein. Niemals!«, sagte er hart. »Ich will sie nicht sehen!«
    Ich widersprach.
    »Warum nicht? Sie ist so schön! Und es ist ganz einfach, weißt 133
    du. Ich mache solche Dinge sehr gerne… «
    »Schluss jetzt, Kunsang!«
    Schroff erhob er sich, ging mit großen Schritten durch die Nacht auf das Pferd zu. Ich lief hinter ihm her, konnte kaum mit ihm Schritt halten. Nach der ersten Aufregung war ich nicht mehr im geringsten erschrocken. Ich wusste jetzt, was er nicht mochte, was ihn berührte oder wütend machte. Und er war nicht im geringsten wütend. In Wirklichkeit hatte er Angst, das konnte er vor mir nicht verbergen.
    Aber warum denn bloß? Warum? Wer oder was hatte diese Angst in ihm verursacht? Ich konnte mir seine Gefühle zwar vorstellen, sie jedoch nicht verstehen. Es war ein großes, unerklärliches Geheimnis, das ich vielleicht niemals erfahren würde. Aber ich dachte schon damals, dass es in meinem Leben nichts Schöneres geben konnte, als das Lied für ihn zu singen und seine Mutter im roten Kleid vor seinen Augen entstehen zu lassen.
    Aus Kunsangs Zeilen sprach etwas Lebendiges, eine enorme Fähigkeit zum Mitgefühl. Sie erzählte eine Geschichte, die ich in gewissem Sinn kannte. Gleichwohl stand die Geschichte von Atan und mir auf einem anderen Blatt. Die Hochsteppen der Khampas waren die Welt der Naturgeister. Ich begriff die Gelähmtheit, fast den Starrkrampf, der Atan befallen haben muss, als Kunsang ihn zwang, den Namen seiner Mutter zu nennen. Aber da alles mindestens zwei Seiten hat, sehnte sich sein Herz nach ihr, mit aller Macht. Und Kunsang – damals noch ein Kind –, Kunsang, die noch nicht gelernt hatte, dass die Vergangenheit Schatten barg, hatte das alles als ein Spiel aufgefasst. Fürwahr, ein gefährliches Spiel! »Was schreibt sie denn?«, fragte Amla vorsichtig, als ich zu ihr in die Küche kam. Ich setzte mich, und sie goss mir Buttertee ein. Ich nahm einen großen Schluck, verbrannte mir die Zunge und bemühte mich um einen gelassenen Tonfall.
    »Sie erzählt von Tagträumen, die sie hatte.«
    »Tagträume…«, murmelte Amla. »Ich kenne das…«
    »Im Tashi-Pakhiel-Camp hatte Atan ihr das Reiten beigebracht.
    Sie waren viel draußen. Die Leute redeten…«
    »Ich verstehe.«
    »Er hat ihr aus seinem Leben erzählt. Dinge, die auch mir bekannt sind. Nicht alles. Einiges. Aber Kunsang war ein Kind, das tief empfand. Sie hat Atan in den Mittelpunkt ihrer Träume gesetzt…«
    Amla nickte bedächtig.
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    »Könnte es sein, dass sie seinetwegen nach Tibet zurück wollte?«
    Sie stellte laut die Frage, die ich mir nicht zu stellen wagte. Ich dachte, die Antwort ist ihr von vornherein vollkommen klar. Sie wusste, wann mich eine Geschichte tief bewegte und wann nicht. In mir brodelte Unruhe, weil ich in der Logik oder im sachlichen Denken keine Grundlage mehr fand. Ja, Amla, du hast schon recht, ich bin eifersüchtig auf Kunsang, nicht nur, weil sie ein hübsches Mädchen ist und jünger als ich! Sondern auch, weil ich spüre, dass beide – Atan und sie – einen Grad der Übereinstimmung erreicht

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