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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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haben, bei dem der Altersunterschied nicht zählt. Die Intensität und Offenheit ihres Austausches hatte zwischen ihnen Vertrauen geschaffen.
    Wie soll ich dir erklären, Amla, dass diese Verbindung in ihrer Tiefgründigkeit nur dadurch entstehen konnte, weil Kunsang ein besonderes Kind war? Weil sie mit subtilem Instinkt Atans Verhältnis zu seiner fernen Vergangenheit erkannte und den Widerschein der Dinge sah, die er erlebt hatte? Das war ihre ganz besondere Begabung. Sie wusste Dinge, die ich nicht wusste und nie wissen würde. Aber was war mit Kunsang heute? Lag auf ihrer Stirn noch das Licht des Paradieses? Hatte sie bereits gelernt, dass es auch für das schönste Lied, für die kostbarste Begegnung ein Ende gab?
    Und da war Amlas Zwischenfrage, die ich immer noch nicht beantwortet hatte. Begriff ich, dass es kein Ausweichen gab? Dass sie mich gut kannte und ich nahe daran war, mich zu verraten?
    Ich trank einen zweiten Schluck Tee, diesmal weniger hastig, und sagte:
    »Ich weiß es nicht. Aber ich denke, dass sie ihn sucht.«
    Amla hatte Erbarmen mit mir: Sie stellte keine weitere Frage.
    135

15. Kapitel

    D er Herbst verging; der Winter war feucht, schmutzig und viel zu warm. Es regnete fast täglich. In dieser Zeit, die mir endlos vorkam, hielt ich meine Fragen und Befürchtungen tief unten. Ich gehörte nicht zu denen, die Heuchelei als ein unausweichliches Übel betrachten. Ich war aufrichtig in allem, was ich tat, und gewiss half es, dass ich Buddhistin war. Man kann keine Patienten heilen, indem man Hingabe und Aufmerksamkeit vortäuscht und dabei die ganze Zeit an etwas anderes denkt! Welche Gedanken und Überlegungen ich mir auch gestattete, sie wurden ständig von praktischen Dingen unterbrochen und beiseite geschoben. Ich fügte mich in die eintönige Klinikroutine und wäre nach und nach ins normale Leben zurückgerutscht, wäre da nicht eine besondere Empfindung gewesen.
    Zumindest war ich nahe daran, ein Gefühl zu fassen, das mich verfolgte und das ich immer wieder verlor, das einfach nicht an die Oberfläche meines Bewusstseins trat. In mir war nichts als eine unklare Erinnerung, wie man sie von einem Ort haben kann, den man im Traum besucht. Irgendwo aus der Erinnerung blitzte es herüber. Ich wollte nicht chronisch unglücklich sein, aber bei allem, was ich tat, war das Gefühl immer dabei. Immerhin war ich gewarnt; etwas würde sich ereignen.
    Dann, im März, ein Anruf von Amla. Ich kam gerade aus dem Untersuchungsraum, als die Sekretärin im Vorzimmer mir den Hörer reichte.
    »Es ist ein Brief da. Von Kunsang«, sagte Amla.
    Die Nachricht fiel in mein Ohr, klanglos, farblos, dumpf. Die Tür zum Untersuchungszimmer war noch offen; ich sah den Glastisch auf Rädern, vollgepackt mit Röhrchen, die in Plastikständern aufgereiht waren. Auf der Couch lag geduldig der Patient, ein Mann mit schweren Kreislaufstörungen. Ich wandte die Augen ab, blickte durch die feuchten Fensterscheiben. Ich sah nichts, hörte nichts. Das dauerte ein paar Atemzüge lang. Dann hörte ich mich fragen:
    »Wann ist er angekommen?«
    »Vorhin. Er wurde in Nepal aufgegeben. Der Brief ist ohne Absender, aber ich kenne Kunsangs Handschrift. Wann kommst du?«
    »Gleich nach der Arbeit«, sagte ich.
    Ich legte den Hörer auf, ging zu dem Mann im 136
    Untersuchungszimmer zurück. Die Kranken brauchen mich; meine Verantwortung gab mir vollkommene Ruhe. Sich selbst zu vergessen ist eine Kunst, die ich inzwischen ganz gut beherrschte. Erst am Abend, als ich den Umschlag mit den nepalesischen Briefmarken auf dem Tisch liegen sah, merkte ich, wie zerschlagen ich war.
    »Warum hast du den Brief nicht aufgemacht?«
    Amla schüttelte den Kopf. Sie wollte, dass ich dabei war. Noch vierzig Jahre nach ihrer Flucht beherrschte Amla die komplizierte tibetische Schrift, aber das Alphabet in seiner Einfachheit konnte sie nur mit Mühe entziffern. Ich hielt den Brief in der Hand, drehte und wendete den Umschlag. Amla sagte: »Ich bin so nervös«, wobei sie einen völlig gefassten Eindruck machte. Mit einem flauen Gefühl im Magen öffnete ich den Umschlag und las. Obgleich Kunsang in deutscher Sprache schrieb – die tibetische Handschrift hatte sie nie richtig gelernt –, begann ihr Brief in völlig korrekter Weise mit den üblichen Fragen nach unserem Befinden. Der Brief war weder direkt an mich noch an Amla gerichtet – an uns beide, offenbar. Und wie üblich nach den ersten Sätzen änderte Kunsang den Ton, verfiel ganz automatisch

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