Die Tochter der Tibeterin
wieder in ihre bildliche Sprache, in ihre eigenen Redewendungen, so dass ich das Gefühl hatte, ihre Stimme aus nächster Nähe zu hören.
»Es tut mir Leid«, schrieb Kunsang, »vielleicht hätte ich nach meiner Ankunft in Nepal Nachricht geben sollen. Aber ich bin daran gewöhnt, allein mit meinen Gedanken zu sein. Ich habe mich zu dieser Reise entschlossen, aber es ist nicht immer einfach, und sicher gäbe es für mich ein paar Gründe, zurückzukommen. Ich würde an der Tür klingeln. ›Wer ist da?‹ – ›Ich bin’s!‹ Großmutter würde aufmachen. Wir würden uns umarmen und vielleicht ein wenig weinen. Ja, das wäre schön. Aber ich würde nur für kurze Zeit glücklich sein.
In Kathmandu arbeitete ich in einem Stoffgeschäft. Eines Tages stand da plötzlich Pema Thetong und sprach mich an: ›Bist du nicht Kunsang?‹ Sie schlug vor, mit ihr nach Pokhara zu gehen. Aber ich wollte nicht; ich hatte Basang kennengelernt, einen Stoffhändler, der mit dem Lastwagen nach Tibet fährt. Er war einverstanden, mich mitzunehmen. Seine beiden Söhne mochten einander sehr, obwohl der eine stark und der andere schwach ist. Gurkon schreckte vor harter Arbeit zurück, Lhapka, der jüngste, hatte seinen Spaß daran.
Beide waren von der Sonne ganz dunkel gebrannt, beide waren gehorsam und ziemlich hässlich. Keine Gefahr also, dass ich mich 137
verliebte!
In der Nähe der Grenze musste ich den Wagen verlassen. Ich sollte zu Fuß durch einen kleinen Wald und dann auf der tibetischen Seite wieder einsteigen. Ich dachte, was, wenn Basang mich anlügt?
Meine Sachen hatte ich im Wagen gelassen. Der bloße Gedanke daran war schrecklich! Aber Basang hielt Wort; kurz nach dem Grenzposten hielt er am Straßenrand und wartete auf mich. Es war eine lange, anstrengende Reise. Einmal wurde ich krank. Mein Hals wurde steif wie hartes Holz. Ich musste erbrechen und hatte Fieber.
Als wir über die Passwege fuhren, war die Kälte kaum auszuhalten, sie drang unter die Haut und stach wie Dornen. Ich lag mit starken Bauchkrämpfen hinten im Wagen, hatte die Beine so dicht an mich gezogen, dass meine Knie beinahe das Kinn berührten. Der Himmel über mir war wie ein großer Teller; ich dachte, wenn er zerbricht, wird er die Berge in Stücke schlagen. Das dauerte ein paar Tage; dann kamen wir in ein Dorf. Gurkon holte im Kloster braune Kügelchen, die ich mit Wasser schlucken musste. Sie schmeckten bitter. Danach schlief ich tief ein; am nächsten Tag ging es mir besser, und wir setzten unsere Reise fort. Ich kannte die Berge von früher, sie machten mir keine Angst. Tagsüber blendeten sie so stark, dass ich kaum die Augen aufhalten konnte. Nachts, wenn der Mond schien, wurden sie weiß und glänzten wie blanke Knochen.
Ich sehe, dass ich zuviel erzähle; deswegen fasse ich mich kurz.
Wir erreichten Lhasa; ich verabschiedete mich von Basang und seinen Söhnen und suchte Ani Wangmo auf, die mich als kleines Kind betreut hatte. Ani Wangmo ist heute sehr arm und es geht ihr nicht gut. Ich gab ihr alles Geld, das ich noch hatte, und konnte bei ihr wohnen. Ich sagte ihr, warum ich nach Tibet gekommen war. Sie wusste nicht, wo ich die alten Lieder lernen konnte; all jene, die mir hätten weiterhelfen können, waren gestorben oder zu alt, um sich zu erinnern. Aber sie sagte, auf dem Barkhor triffst du Leute von überall her. Also befolgte ich ihren Rat. Das Wetter war seit Monaten trocken. Und jeden Morgen, sobald die Lautsprecher die Uhrzeit Beijins verkündeten, lag schon der Staub, von zahllosen Rädern, Wagen, Füßen aufgewirbelt, wie Sonnennebel über dem Platz. Es war sehr merkwürdig für mich, wieder in Lhasa zu sein.
Viele Dinge erkannte ich wieder, andere überhaupt nicht.
Da war ich also auf dem Barkhor, als eines Tages maskierte Wanderschauspieler auftraten. Sie kamen mir zugleich fremd und bekannt vor. Vielleicht hatte ich sie nicht in diesem Leben gesehen, 138
sondern früher, im Leben davor? Der maskierte ›Jäger‹ schlug die Trommel, der ›Hirsch‹ in seinem Fellmantel führte die tollsten Sprünge auf, der ›Prinz‹ pirschte mit Pfeil und Bogen heran. Gerade als er den Hirsch erlegen wollte, erschien die ›Göttin‹, weiß geschminkt und in prachtvoll besticktem Gewand. Sie bat den Prinzen, dem Hirsch kein Leid zuzufügen. Der Prinz ließ Bogen und Köcher von seiner Schulter gleiten und warf sie fort. Zum Dank sang und tanzte die Göttin für ihn. Eine dichte Menge drängte sich um die Schauspieler; ich wurde
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