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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Bree stellte ihr leeres Glas ab und verlagerte Paul von einem Arm auf den anderen. Ihr ungeschminktes Gesicht war zart und fein gegliedert, ihre Wangen und Lippen blaßrosa.
    »Ich könnte nicht so leben wie du«, sagte Norah langsam. Seit Paul auf der Welt und Phoebe gestorben war, hatte sie es für nötig erachtet, ständig auf der Hut zu sein, als ob eine Sekunde der Unachtsamkeit dem Unglück Tür und Tor öffnen würde. »Ich könnte das nicht – gegen alle Regeln leben, alles in den Wind schlagen.«
    »Davon geht die Welt nicht unter«, sagte Bree ruhig. »Es ist erstaunlich, aber es ist tatsächlich so.«
    Norah schüttelte den Kopf. »Sie könnte aber untergehen. Alles ist möglich, jederzeit.«
    »Ich weiß«, erwiderte Bree langsam. »Das weiß ich doch.« Norahs Ärger war einem plötzlichen Gefühl der Dankbarkeit gewichen. Bree hörte ihr immer zu, und ihre Antworten waren aufrichtig. Dafür forderte sie nichts Geringeres, als daß ihr Leben anerkannt wurde. »Du hast recht, Schwester, alles mögliche kann passieren, jederzeit. Aber wenn etwas schiefgeht, ist es nicht deine Schuld. Du kannst nicht den Rest deines Lebens auf Zehenspitzen herumlaufen und versuchen, Katastrophen zu verhindern. Das funktioniert nicht. So verpaßt du dein Leben.«
    Norah wußte nicht, was sie darauf antworten sollte, und so langte sie nach Paul, der sich hungrig in Brees Armen wand. Wann immer er sich bewegte, wehte sein Haar, das zu lang war – aber Norah konnte es einfach nicht abschneiden –, leicht hin und her.
    Bree schenkte ihnen nach und nahm sich einen Apfel aus der Obstschale. Norah schnitt dicke Käse- und Bananenstücke und Brot ab und verteilte alles auf dem Tablett von Pauls Hochstuhl. Währenddessen nippte sie an ihrem Wein. Allmählich gewann die Welt um sie herum an Kontur, wurde lebendiger. Sie bemerkte, wie Pauls Hände mit kreisförmigen Bewegungen Karottenschnitze in seinem Haar verteilten. |104| Das erleuchtete Küchenfenster druckte den Umriß der Verandabrüstung auf das Gras, ein Muster aus Schatten und Licht.
    »Ich habe David zu unserem Hochzeitstag eine Kamera gekauft«, erzählte Norah und wünschte sich, sie könnte diese flüchtigen Momente einfangen und sie für immer aufbewahren. »Seit er seinen neuen Job begonnen hat, arbeitet er sehr hart. Er bräuchte mal eine Ablenkung. Ich kann kaum glauben, daß er heute abend arbeiten muß.«
    »Weißt du was?« entgegnete Bree. »Ich könnte Paul doch trotzdem nehmen. Wer weiß, vielleicht kommt David früh genug zum Essen zurück. Oder ihr überspringt das Essen einfach, falls er erst um Mitternacht kommt, fegt die Teller vom Tisch und macht auf dem Eßzimmertisch Liebe.«
    »Bree!«
    Ihre Schwester lachte. »Bitte, Norah, ich nehme ihn wirklich gerne.«
    »Er muß in die Badewanne«, gab Norah zu bedenken.
    »Okay, ich verspreche, ihn nicht in der Badewanne ertrinken zu lassen.«
    »Das ist nicht witzig«, ermahnte sie Norah. »Gar nicht witzig.«
    Aber sie nahm das Angebot an und packte Pauls Sachen. Als Bree mit ihm aus der Tür ging, bemerkte sie, wie ernst seine großen, dunklen Augen sie beobachteten. Dann war er verschwunden. Vom Fenster aus sah sie Brees Rücklichtern nach, bis die Straße sie verschluckt hatte. Es war die einzige Möglichkeit, sich davon abzuhalten, hinter ihnen herzurennen. Wie konnte man überhaupt ein Kind großziehen, um es dann in diese gefährliche Welt zu entlassen? Sie blieb einige Minuten am Fenster stehen und starrte in die Dunkelheit. Dann ging sie in die Küche zurück, wickelte Folie um den Braten und schaltete den Ofen aus. Es war sieben Uhr. Die erste Weinflasche war fast leer. In der Küche war es so still, daß man das Ticken der Uhr hören konnte, und Norah öffnete |105| eine Flasche des teuren französischen Weins, den sie für das Abendessen gekauft hatte.
    Im Haus war kein Laut zu hören. War sie seit Pauls Geburt überhaupt schon einmal allein gewesen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Da sie stets fürchtete, daß sie wieder von den Gedanken an ihre tote Tochter eingeholt würde, hatte sie solche Momente der Einsamkeit und Stille vermieden. Der Trauergottesdienst, der im harten Licht der Märzsonne auf dem Kirchhof stattgefunden hatte, war zwar hilfreich gewesen, aber manchmal hatte Norah noch immer das unerklärliche Gefühl, daß ihre Tochter anwesend sei, als ob sie sich umdrehen und sie auf der Treppe oder auf dem Rasen stehen sehen könnte.
    Sie stemmte ihre Hand flach gegen die Wand und

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