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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Bree sollte erst in einer Stunde hier sein. »Mein süßes Baby«, flüsterte sie. In den Hörer rief sie noch einmal: »Hallo?«
    »Mrs. Henry?«
    Es war die Schwester aus Davids neuem Büro, die Norah noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Ihre Stimme klang voll und warm. Norah hatte eine Frau mittleren Alters, schwer und kräftig mit sorgfältig hochtoupierten Haaren, vor Augen. Caroline Gill, die während der Wehen ihre Hand gehalten hatte und deren blaue Augen und fester Blick für Norah untrennbar verbunden waren mit jener wilden weißen Nacht, war auf mysteriöse Weise einfach verschwunden – ein Skandal.
    »Mrs. Henry, Sharon Smith am Apparat. Dr. Henry wurde eben zu einer Notfalloperation gerufen, und das, ich schwöre es, gerade, als er aus der Tür war und nach Hause gehen wollte. Auf der Straße nach Leestown gab es einen schrecklichen Unfall. Natürlich Teenager. Sie sind ziemlich schwer verletzt. Dr. Henry hat mich gebeten, Sie anzurufen. Er wird so schnell kommen, wie er kann.«
    »Hat er gesagt, wie lange es dauern wird?« fragte Norah. Der Duft von Schweinebraten, Sauerkraut und Ofenkartoffeln – Davids Leibgericht – zog durchs Haus.
    »Nein, meine Liebe, das hat er nicht, aber es muß ein scheußliches Wrack gewesen sein. Unter uns gesagt, es kann Stunden dauern.«
    Norah nickte. Die Eingangstür ging, dann hörte sie Fußschritte, leicht und vertraut, erst im Foyer, dann im Wohnzimmer, schließlich im Eßzimmer. Es war Bree, die ein bißchen |99| zu früh gekommen war. Sie wollte Paul abholen, damit Norah und David diesen Valentinstag, ihren Hochzeitstag, ganz für sich hatten. Eine Überraschung von Norah für David.
    »Danke«, sagte sie enttäuscht, bevor sie auflegte. »Danke, daß Sie angerufen haben.«
    Bree kam in die Küche und brachte den Geruch von Regen mit. Unter ihrem Regenmantel trug sie schwarze Stiefel, und ihre langen Beine mit den weißen Strumpfhosen verschwanden in dem kürzesten Rock, den Norah je gesehen hatte. Ihre silbernen Ohrringe, die mit Türkisen besetzt waren, tanzten im Licht. Sie war direkt von der Arbeit gekommen – sie leitete das Büro einer lokalen Radiostation –, und ihre Tasche war voll mit Büchern und Papieren, weil sie nebenbei noch studierte.
    »Mensch, das sieht ja phantastisch aus, Norah«, lobte Bree, die ihre Tasche auf den Küchentresen fallen ließ und sich Paul griff. »Ich kann kaum glauben, was du in so kurzer Zeit mit dem Haus angestellt hast.«
    »Ich brauchte es als Ablenkung«, gestand Norah und dachte an die Wochen zurück, in denen sie Tapeten abgelöst und eine Farbschicht nach der anderen aufgetragen hatte. David und sie hatten sich für einen Umzug entschieden, weil sie glaubten, es würde ihnen helfen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Besonders Norah, die sich nichts sehnlicher als diesen Neuanfang wünschte, hatte sich diesem Projekt mit Haut und Haar verschrieben. Leider hatte es ihr nicht so viel geholfen, wie sie sich erhofft hatte. Noch oft überkam sie der Schmerz über den Kindsverlust. Allein im letzten Monat hatte sie zweimal einen Babysitter für Paul bestellt und das Haus, voller Tapetenrollen und nur zur Hälfte gestrichen, sich selbst überlassen. Zu schnell war sie dann auf den engen Landstraßen zu dem Privatfriedhof mit dem schmiedeeisernen Tor gerast, in dem ihre Tochter beerdigt war. Die Grabsteine waren niedrig und einige so alt, daß |100| sie vom Regen fast glatt geschliffen waren. Phoebes Stein war sehr einfach, die Daten ihres kurzen Lebens waren, unter ihrem Namen, tief in den roten Granit gemeißelt. In der kargen Winterlandschaft hatte Norah, schneidenden Wind in den Haaren, auf dem stechenden, gefrorenen Gras aus ihrem Traum gekniet. Sie war vor Trauer fast wie gelähmt gewesen und ihr Leid zu groß, als daß sie hätte weinen können. Dennoch verharrte sie dort mehrere Stunden, bis sie schließlich aufstand, ihre Sachen abklopfte und nach Hause zurückkehrte.
    Paul war gerade dabei, mit Bree zu spielen, wobei er versuchte, ihre Haare zu fassen zu bekommen.
    »Deine Mutter ist erstaunlich«, erzählte ihm Bree. »In letzter Zeit ist sie ein richtiges Hausmütterchen, findest du auch? Nein, mein Lieber, nicht die Ohrringe«, fügte sie hinzu und fing Pauls kleine Hand ab.
    »Hausmütterchen?« schnaubte Norah wütend. »Was meinst du damit?«
    »Ich meine gar nichts damit«, beschwichtigte sie Bree. Sie hatte Grimassen für Paul geschnitten und wandte sich ihr nun verblüfft zu. »Ach, Norah, reg dich

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